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So muss die Welt enden

So muss die Welt enden

Titel: So muss die Welt enden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: James Morrow
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»Zweitens ist es meine Pflicht, Sie darauf aufmerksam zu machen, daß für Sie als Gesamtkaution ein Betrag von dreihundertzweiundsechzig Milliarden Dollar festgesetzt worden ist, dessen Höhe mit dem letztjährigen sogenannten Verteidigungsetat der Vereinigten Staaten von Amerika übereinstimmt.« Er schwieg kurz, grinste. »Sollte jemand von Ihnen diese Summe zufällig dabei haben, nehme ich umgehend wegen Ihrer Freilassung mit Ihrem Anwalt Verbindung auf.«
    Aus dem Innenhof führte eine Treppe ins weiße, kalte Innere des Gletschers. Gila Guizots Sturmgewehr lenkte George die Stufen hinab und danach einige hundert Meter weit durch auf und ab verlaufende, gewundene, durch etliche Biegungen gekurvte Gänge. An den Kerkerwänden knisterten Robbenöllampen. Wärter strebten hin und her; ihre Mienen spiegelten Haß wider, Zorn, Trauer und unterentwickelte Gemüter.
    ZELLE 6 PAXTON stand an einer Eisentür. George ging hinein und sah betroffen die Zelle von gedämpftem Februar-Sonnenlicht aufgehellt. Er schaute nach oben. Ein durchsichtiger Eisblock bildete die Decke der Zelle. Greulich-graue Wolken verhingen den Himmel.
    Gegen Selbstmord war in der Zelle gründlich vorgebeugt worden. An der Eisdecke ließ sich keine Schlinge befestigen, die Kanten und Ecken des Mobiliars – Bett, Stühle, Schreibtisch, Kommode – hatte man durch Abschleifen abgerundet. Aber aus irgendeinem Grund durfte er seinen Leonardo behalten, obwohl es ihm möglich gewesen wäre, ihn zu zerbrechen und sich mit einer Scherbe das Handgelenk aufzuschneiden. Weshalb gönnte man ihm dieses Privileg? Eines Tages ersah er, während er die Decke anstarrte, als wären die Wörter hineingeritzt, einen Hinweis auf eine denkbare Erklärung. Es handelte sich um ein Zitat Fjodor Dostojewskijs: »Am Ende der Welt werden unvorstellbare Werke der Barmherzigkeit stehen.«
    *
    Und so fügte George sich ins Gefängnisdasein. Er rechnete mit einer Fortsetzung seiner kürzlichen Einzelhaft an Bord des U-Boots, mit endloser Langeweile. Während der anfänglichen zweiundsiebzig Stunden entsprach die Haft seiner Erwartung vollständig. Nichts geschah, nicht einmal die Sonne ging auf oder sank, weil der Kontinent im Zwielicht seines sechsmonatigen Tages lag. George ruhte auf seinem Eisbett, schlief, schlief nicht, grübelte, las die Anklageschrift, besuchte sein Phantasiemuseum: Morning im Hochzeitskleid, Morning beim Stillen Aubreys.
    Dann nahmen die Martern ihren Lauf. Im Gegensatz zu Henkers Befürchtungen verstieß die Art von Schikanen, die man in der Antarktischen Nationalen Sonderstrafanstalt praktizierte, durchaus nicht gegen das in der Genfer Konvention definierte zivilisierte Verhalten gegenüber Kriegsgefangenen.
    Die Folterung der Gefangenen bestand darin, daß man ihnen gewährte, was sie wünschten. Sie brauchten nur irgendeine Vergünstigung zu nennen und bekamen sie. Delikatessen? Jeden Abend um 18 Uhr servierten Ramos’ Untergebene eine Mahlzeit, als gälte hier jede einzelne menschliche Geschmacksknospe als erogene Zone; die Geheimnisse, wie man Adeliepinguin en brochette und flambierten Seelöwen zubereitete, hätten Kochbücher zu Bestsellern gemacht. Getränke? – Gegoren entfaltete die Milch der Weddellrobbe eine Wirkung, die nichts mehr mit Milch zu tun hatte. Sexualität? – Was den örtlichen Prostituierten an Erfahrung mangelte, glichen sie durch Einsatzeifer aus. Intellektuelle Anregung? – Antarktikas Bevölkerung konnte sich mit einem beträchtlichen Anteil hypothetischer Pulitzer-Preisträger brüsten.
    Allerdings versammelten sich über jeder Zelle, wenn die Häftlinge ihre Genüsse auszukosten versuchten, kleinere Zuschauermengen Schwarzblütiger, die durch die transparenten Eis-Deckenplatten hereinglotzten und an allem lebhaftes Interesse zeigten. Wie schwache Sterne erfüllten Augen das Firmament. Die Gaffer klatschten Beifall, pfiffen, stampften mit den Füßen. »Laßt uns ein!« skandierten sie. Immer größere Annulliertenkreise fanden daran Spaß. Die Teilnehmer brachten sich Freßpakete mit.
    Den ersten Becher Kaffee, den George unter diesen Bedingungen erhielt, trank er noch mit Gleichmut. Das zweite Mal stellte er sich mit dem Becher in eine Ecke und starrte die Wand an, schlürfte kleine, verstohlene Schlückchen. Beim drittenmal ließ er den Kaffee erkalten.
    Eine Prostituierte namens Trudy kam zu Besuch. Sie war in der Blüte ihrer Jahre auf den Kontinent gelangt. »Es tut mir echt leid, daß wir’s nicht ’n bißchen

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