So nah am Leben
Pilgerstempelstation und nehmen dafür gern eine Spende entgegen. Samantha fragt sie nach einem Frühstück und bekommt zu ihrem Kaffee auch noch ein wunderbares Schinkenbrot mit Tomaten. Die Tochter steigt barfuß auf die Hundehütte und hangelt vom Feigenbaum drei reife Feigen für sie herunter.
Alles ist gut. Samantha sitzt unter einem weißen Pavillon. Ihre Füße bedanken sich für die Pause und wollen erst einmal auch nicht weiter. Eine gute Gelegenheit zum Schreiben.
Alle Pilger kommen auf ihrem Weg von Viana hier entlang, und sie trifft Angeles, die Madrilenerin. Sie ist heute morgen nicht so guter Laune. Dann kommt Maria vorbei, sie will aber keine Pause machen und geht nach einem kurzen Begrüßungsschnack weiter.
Ein Blick auf die Füße der Peregrinos zeigt, daß alle Varianten vertreten sind, von schwerem Wandergerät über einfache Turnschuhe bis zu Sandalen. Und plötzlich erscheint Flores aus Slowenien. Er trägt gar keine Schuhe, ist barfuß... nur bei sehr steinigem Boden trägt er leichte Jesuslatschen... unglaublich, aber wahr. So sind sie, die Peregrinos... jeder auf seine Weise.
Samantha sitzt immer noch am selben Fleck und hört auf ihre Füße. Dann kommt Carla an den Stempelstützpunkt. Sie hat einen ähnlich langsamen Schritt wie sie, und beide beschließen, ein Stück zusammen zu gehen. Sie ist eine liebenswürdige, kluge, junge Frau, und sie verbringen ein paar angenehme Stunden miteinander, bis sie in Logroño ankommen. Dort entläßt Samantha sie in einer endlosen Schlange von wartenden Pilgern auf dem Gehweg vor der noch geschlossenen Herberge.
Inzwischen ist es Mittag geworden, und Samantha nimmt sich vor, eine ausgedehnte Siesta zu machen. Logroño ist eine relativ große Stadt und nicht besonders ansprechend mit ihren modernen, lieblos wirkenden Bauten. Breite Straßen mit breiten Gehwegen durchziehen die Häuserfronten. Als Mittelpunkt der Weinproduktion umgeben die Winzergenossenschaften die Stadt und verleihen ihr so einen gewissen Industriecharakter. Die Altstadt hat noch etwas aus der Zeit des Apostels Jakobus bewahrt, der als „Matamoros“, der Maurentöter, in der Schlacht von Clavijo im 9. Jahrhundert eigenhändig eingegriffen haben soll.
Die Temperaturen liegen inzwischen wieder bei über dreißig Grad im Schatten und lassen Samantha ohne Rucksack und ohne zu gehen ins Schwitzen geraten. Sie überlegt, wie es nach der Siesta weitergehen soll, und dann fällt ihr ein, daß sie heute noch gar kein Thema gezogen hat. Also beschließt sie, vor dem Weiterlaufen noch ihr Stoffsäckchen hervorzuholen und zu sehen, was heute ansteht. Die Vielfalt der Themen hält jeden Tag eine neue Überraschung für sie bereit. Gerade noch hat sie im Reiseführer über den Maurentöter Jakobus gelesen, und nun zieht sie das Thema: TOD.
Auf diesem Weg fügen sich so viele kleine und große Dinge zusammen, auch dieses Thema paßt perfekt zum heutigen Tag. Und mit dem Bewußtsein, daß alles richtig ist und alles Sinn ergibt, packt Samantha ihre Dinge wieder ein und macht sich auf den Weg zu dem vor ihr liegenden Stausee: Embalse de la Grajera.
Der Weg aus der Stadt heraus führt an endlos scheinenden Bürgersteigen entlang. Die Steine unter ihren Füßen sind glühend heiß, und Samantha wünscht sich sehnlichst ein Taxi oder einen Bus, um ihr die Last in der Mittagshitze abzunehmen.
Noch bevor sie sich ernsthaft danach umsehen kann, findet sie sich an einer Bushaltestelle vor einem wartenden Bus wieder. Sie ist so überwältigt, daß sie einsteigt, ohne darüber nachzudenken, ob dieser Bus zum Stausee fährt. Als sie bezahlen will, fragt der Fahrer nach ihrem Ziel, und sie sagt wie selbstverständlich: „Zum Stausee.“ Er kassiert siebenundfünfzig Cent und bestätigt damit, daß sie in der richtigen Linie sitzt. Dankbar läßt sie sich auf einen Sitz ganz vorn fallen.
Der geringe Fahrpreis macht sie dann aber doch stutzig, und sie ist sich plötzlich nicht mehr ganz sicher: Sind es denn nur so wenige Stationen bis zum Stausee? Egal, der Fahrer sagte etwas von Endstation, und da ihr der Bus vom Leben direkt vor die Nase gestellt worden ist, vertraut sie auf die Weisheit des Lebens.
Am Stausee herrscht Hochbetrieb. Das sonnige Wetter hat unzählige spanische Familien ins Freie gelockt. Die Grillplätze sind bis auf den letzten Platz belegt und die Tische davor reichlich und farbenfroh gedeckt. Die Kinder spielen friedlich im flachen Wasser, und die Fröhlichkeit der Erwachsenen
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