So nah am Leben
steckt sie an.
Nicht gerade förderlich für mein heutiges Thema, denkt sie. Und dann: Warum eigentlich nicht? Ist der Tod denn nur traurig? Was ist so schrecklich daran? Sie erinnert sich, daß Beerdigungen ihr Leben lang etwas Abschreckendes für sie hatten und daß sie stets Zeremonien anderer Völker bevorzugte, bei denen der Schmerz zwar seinen gebührenden Platz bekam, bei denen aber auch andere Gefühle und Einstellungen sein durften. Der Tod ist doch kein Zustand. Er ist lediglich ein Übergang.
Wenngleich die abendländische Kultur die Menschen glauben machen will, daß es so etwas wie das Jüngste Gericht oder gar ein Fegefeuer gibt... vielleicht ist ja in Wirklichkeit alles ganz anders.
Samantha ist gedanklich nun voll und ganz in das Thema Tod eingetaucht, während verschiedene Situationen vor ihrem inneren Auge auftauchen. Dies alles läuft ungeordnet, ohne jeglichen Zusammenhang, und sehr schnell ab, und Samantha spürt, daß sie auf diesem Gebiet noch einiges zu sortieren hat.
Was macht uns denn so traurig und sogar ängstlich, wenn wir an den Tod denken? Für Samantha gibt es da mindestens zwei Ebenen: einmal unseren eigenen Tod und dann den Tod anderer Menschen.
In den Seminaren, die Samantha zu diesem Thema gegeben hatte, kam ein Experiment vor. Sie fragte die Teilnehmerinnen als erstes, wie alt sie gern werden wollten, und dann gab sie Maßbänder aus, die genau die Anzahl an Zentimetern maßen, die als Alterswunsch angegeben worden waren. Danach bat sie, die bereits gelebte Zeit mit einer Schere abzuschneiden und diesen Abschnitt ganz bewußt auf den Boden fallenzulassen und ihm nachzusehen.
Diese sinnbildliche Übung, die zunächst belanglos erscheinen mochte, machte vielen Teilnehmerinnen klar, daß hinter ihnen bereits eine große Strecke ihres Lebensweges lag und der noch verbleibende Teil in ihren Händen im Verhältnis dazu weitaus kleiner ist.
Wir sind uns oftmals viel zu wenig der Endlichkeit unseres Daseins bewußt, genauso wenig wie der Tatsache, daß wir den Rest unseres Lebens in unseren Händen halten.
So könnte die Angst vor dem eigenen Tod möglicherweise mit unserem Unbehagen zu tun haben, die Endlichkeit unseres Daseins in ihrer ganzen Dimension begreifen zu müssen. Wir verfügen nicht über eine unbegrenzte Lebenszeit. In diesem Zusammenhang tauchen dann zwangsläufig viele Fragen auf, deren Antworten uns vielleicht nicht gefallen, und so ignorieren wir das Thema meist gänzlich und glauben, damit die Folgen verdrängen oder ihnen entgehen zu können.
Was machen wir aus unserer Lebenszeit, wie gehen wir mit ihr um? Was schieben wir auf, was unterlassen wir? Samantha kommt ein Satz in den Sinn, der sie sehr stark beeindruckte: „Am Ende unseres Lebens werden wir eher bereuen, was wir nicht getan haben, als das, was wir getan haben.“ Etwas im Leben falsch gemacht zu haben, können wir uns demnach eher verzeihen, als etwas gar nicht getan zu haben.
Natürlich läßt das Thema des Todes auch die ewig gestellte Frage wieder aufleben: Was ist der Sinn unseres Lebens — unseres Hierseins?
Samantha ist der Ansicht, daß es hierauf keine allgemeingültige Antwort gibt, daß es aber sehr hilfreich ist, einen ganz persönlichen und individuellen Grund für sein Leben zu finden. Sie hat sehr häufig erlebt, daß der wiederentdeckte Lebenssinn einen Wegweiser und so etwas wie Orientierung für Menschen darstellt. Mit einem konkreten Lebensziel läßt sich auch die Einzelentscheidung des alltäglichen Lebens einfacher einbinden.
Können wir die Angst vor dem Tod besser ertragen, wenn wir den Sinn unseres Lebens kennen? Wovor haben wir denn überhaupt Angst? Nicht mehr zu sein? Was denn nicht mehr zu sein? Kann es die Angst sein, etwas versäumt zu haben? Vielleicht sogar, umsonst gelebt zu haben? Woher kommt die Angst vor dem Sterben? Ist es vielleicht auch der „christliche“ Gedanke von Schuld und Sühne, der dem Menschen Angst vor seinem Tod macht? In Samanthas Kopf entstehen immer mehr Fragen und viel weniger Antworten.
Während sich diese Gedanken in ihrem Kopf aufbauen und breitmachen, geht sie einen langen Zaun entlang. In diesem Zaun stecken Hunderte, wahrscheinlich sogar Tausende von kleinen und großen Kreuzen. Von Pilgern aus Holz und Zweigen gesteckt und täglich ergänzt. Und so begleitet sie das Thema des Todes innerlich und äußerlich. Und als wäre sie durch die vielen Fragen nicht schon verwirrt genug, kommt jetzt noch eine neue hinzu: Was stirbt
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