So nah am Leben
an dessen Anfang und Ende jeweils die Frage gestellt wird: „Haben Sie sich schon einmal als die gesehen, die sie geworden sind?“ Sie spielt in Gedanken mit diesem Satz und fragt sich, warum er ihr gerade jetzt einfällt und was er wohl mit ihrem Thema zu tun hat.
Vielleicht hat ihr Ehrgeiz zum Ziel, sie die werden zu lassen, von der sie glaubt, daß sie sie sein sollte. Ehrgeiz hat etwas mit der eigenen Vorstellung zu tun, etwas Bestimmtes tun oder sein zu müssen. Etwas, das noch nicht da ist, was sie also gar nicht ist, und das sie nicht akzeptieren will. Also treibt sie sich voran, geht über ihre Grenzen — bis hin zur Quälerei und Überforderung.
Und jetzt melden sich auch wieder ihre Füße. Na wunderbar — gerade zum rechten Zeitpunkt und an der richtigen Stelle. Und die einst so schwierige Frage, was ihr Körper ihr damit wohl sagen will, die ist auf einmal sehr einfach zu beantworten: Laufe weniger Kilometer! Laufe nur so viele, wie es deine Füße auch verkraften können. Richte dich nicht nach den anderen Pilgern und deren Strecke und Tempo. Sei die, die du bist, und tue das, was du kannst.
Hier schließt sich der Kreis für sie, und das Thema Mut kommt wieder ins Spiel. Sei mutig genug, die zu sein, die du bist. Dann triff die Entscheidungen, die dir gerecht werden, ohne den Ehrgeiz, etwas anderes sein zu wollen. Akzeptiere dich und deine Möglichkeiten. Deine Möglichkeiten, klingt es in ihr nach.
Inzwischen ist sie in Torres del Río angekommen. Die nächste Bar winkt ihr schon entgegen.
Sie spürt in sich hinein und versucht, den Ehrgeiz in sich zur Ruhe zu bringen, um für alles Übrige empfänglich zu sein. Ihre Füße schmerzen, und ihr Körper macht einen erschöpften Eindruck. Für heute scheinen ihre Möglichkeiten ausgereizt. Sie denkt noch einmal darüber nach, was auf dieser Reise für sie das Wichtigste ist. Sie möchte wahrhaftig die Erfahrungen machen, die am Wegesrand auf sie warten. Und dabei kommt es ihr nicht darauf an, jeden einzelnen Meter mit den Füßen zu erlaufen.
Vielleicht wartet die eine oder andere Erfahrung ja in einem Bus oder irgendwo anders auf sie. Sie will sich dem Fluß dieses Weges hingeben, nicht ihren Ehrgeiz befriedigen. Und dann trifft sie eine mutige Entscheidung: Sie fragt nach einer Busverbindung nach Viana und läßt den Mann hinter dem Tresen ein Zimmer für sie reservieren. Der Angestellte zeigt sich sehr hilfsbereit und versichert ihr bereits nach wenigen Minuten, daß er ihr ein nettes Zimmer in einem alten spanischen Stadtpalais gebucht hat.
Und? Wie geht es ihr mit dieser Entscheidung? Samantha fühlt sich wunderbar.
Dann läßt sie sich den Weg zur Bushaltestelle erklären, und als wolle das Leben ihre Entscheidung unterstützen, fährt der einzige Bus des heutigen Tages in einer halben Stunde nach Viana ab.
Tod
Der Tod ist kein Zustand,
er ist ein Übergang.
Er betrifft nur unseren Körper —
nicht unsere Seele und nicht unseren Geist!
Das Zimmer ist bereits durch schwachen Sonnenschein erleuchtet. Samantha liegt in einem großen Bett, das an ein Himmelbett denken läßt, wenn man sich den Stoff zu den schweren dunklen Pfosten dazu denkt. Die Matratze erscheint so alt wie das Gebäude selbst, wenn man ihren Grad des Durchhängens mit den Deckenbalken vergleicht.
Der Barmann gestern hat ihr nicht zuviel versprochen. Das alte Stadtpalais in Viana stammt aus dem Jahre 1367 und ist in seinen Grundfesten sicher mehr als einmal erschüttert worden. Sie kann immer noch erahnen, welch prachtvolles Gebäude es einst gewesen war. Aufwendig aus Holz geschnitzte Treppengeländer säumen den Aufgang bis in das vierte Stockwerk. Krumm und schief sind Fenster und Türen, während die blau-rote Bleiverglasung in den Fenstern der Vorderfront an eine Kirche erinnert.
Samantha würde sich jetzt gern anhören, was die Mauern zu berichten hätten, schließt wieder ihre Augen und läßt die Energien des Zimmers auf sich wirken.
Sie sind schwer, aber nicht unfreundlich. In diesem Bett wurde viel geweint, durchfährt es sie. Zu gern wüßte sie mehr über die Geschichte dieses Hauses und über die Bewohner der verschiedenen Jahrhunderte. Samantha hat in diesem Bett nicht geweint, sondern ihre Müdigkeit hineingelegt und sie übernacht in Entspannung transformiert.
Samantha öffnet ihre Augen und blickt sich um. Unter der Decke hängen die Abflußrohre für Wasser und Toilette freischwebend im Raum, nachträglich angebracht und notdürftig
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