So nah am Leben
getreten ist. Sie wartet geduldig, bis die beiden ihre Angelegenheit beendet haben. Dann fragt sie nach der Straße. Die Frau schaut sie an und sagt: „Da sind Sie hier aber ganz falsch. Das Hotel liegt eineinhalb Kilometer weiter aus dem Ort heraus.“ Sie zeigt in die Richtung, aus der Samantha gekommen ist.
Der Gedanke, daß sie unter Schmerzen mehr als eine halbe Stunde lang hier herumgeirrt ist und dann auch noch den ganzen Weg wieder zurückmarschieren soll, treibt ihr die Tränen in die Augen. Samantha schaut die junge Frau an und fragt nach einem Taxi. Die schüttelt den Kopf, zuckt mit den Schultern und wendet sich zum Gehen. Der Polizist ruft ihr noch etwas hinterher, offensichtlich will er ihre Telefonnummer haben — sie lehnt ab. Daraufhin macht er sich beleidigt davon, während die junge Frau zu ihrem Auto geht. Samantha bleibt wie angewurzelt neben ihrem Rucksack auf der Straße stehen, zu erschöpft, um zu reagieren. Jetzt fließen die Tränen nur noch, und sie kann sich ihrer noch nicht einmal mehr schämen.
Noch bevor die junge Frau ihren Wagen starten kann, löst sich Samantha aus ihrer Erstarrung und geht zu ihr hinüber. Sie fragt sie, ob sie sie mit ihrem Wagen zum Hotel bringen könnte, sie würde selbstverständlich dafür bezahlen — sie könne keinen Schritt mehr gehen. Die junge Frau überlegt und guckt Samantha von oben bis unten an. Für einen kurzen Moment befürchtet Samantha, sie könne ihr ihre Bitte abschlagen, und Verzweiflung keimt auf. Es dauert zwei lange Minuten, bis die Frau sich dazu entschließt, sie zum Hotel zu fahren, wehrt aber vehement jegliche Entlohnung ab.
Samantha ist der jungen Frau so dankbar, daß sie ihr verspricht, sie in ihr Nachtgebet mit einzuschließen. Schließlich ist sie nach ihrer zermürbenden Odyssee endlich im Hotel angelangt und möchte jetzt nur noch in die Waagerechte. Gegen ihren Hunger kann sie immer noch später etwas tun.
An der Rezeption erfährt sie, daß das Hotel kein Restaurant besitzt und daß sie dafür wieder in den Ort zurück müsse — schlagartig vergeht ihr der Hunger. Sie genießt das große, komfortable Bad, knabbert die Minibar leer und schläft schließlich erschöpft ein.
Achtsamkeit
Achtsamkeit macht langsam
und bringt uns
von der eingefahrenen Reaktion
hin zum situativen Denken und Handeln.
Samantha fühlt sich wunderbar ausgeschlafen, und beim ersten Blick aus dem Fenster bleiben ihre Augen an einem parkähnlichen Garten hängen, in dem die Blumen in allen erdenklichen Farben blühen. So erschöpft und frustriert wie sie hier gestern ankam, war ihr diese Blumenpracht völlig entgangen. Dafür schenkt sie den Blumen jetzt ihre ungeteilte Aufmerksamkeit, was ihre ohnehin zufriedene Stimmung noch beträchtlich steigert.
Samantha steigt vorsichtig aus dem Bett und testet ihre Füße. Dabei stellt sie fest, daß auch sie heute morgen in etwas besserer Stimmung sind. Ganz gegen ihre Gewohnheit frühstückt sie im Hotel. Das reichhaltige Buffet mit den vielen Leckereien entschädigt sie für das gestrige ausgefallene Abendessen.
Das paßt gut, weil die heutige Etappe zwar von der Distanz her kürzer ist, aber auf den sechzehn Kilometern keine Möglichkeit zur Einkehr bietet. Und so versorgt sie sich mit einem Zwischenimbiß aus der Hotelküche und genügend Wasser für die gesamte Strecke. Dann packt sie ihre Sachen und zieht noch das Tagesthema für heute. Auf dem kleinen Zettel steht: ACHTSAMKEIT.
Die Gegend, durch die sie kommt, ist dünn besiedelt. Winzige Ortschaften werden mit nur einer einzigen Straße verbunden. Während sie durch die menschenleere Natur wandert und den Blütenduft der umliegenden Wiesenblumen einatmet, überkommt sie wieder dieses ambivalente Gefühl. Auf der einen Seite fühlt sie sich hier in diesem Moment im positiven Sinne nur mit sich ganz allein diesen Weg entlanglaufend, und auf der anderen Seite entsteht so etwas wie ein kosmisches Gefühl in ihr, mit diesem allem verbunden zu sein.
Sie ist sich nicht mehr sicher, ob sie den Strauch mit seinen lila Blütenrispen anschaut oder ob er sie anschaut und auf ihrem Weg begleitet. Es scheint, als winke ihr die kleine Eiche zu und wünsche ihr einen schönen Tag... warum wünscht Samantha ihr nicht auch einen schönen Tag? Etwa weil sie ein Baum ist und sie es nicht gewöhnt ist, mit Pflanzen zu sprechen?
Bei dieser Frage kommt ihr wieder das Tagesthema in den Sinn: Achtsamkeit. Mit Achtung erfüllt sein... und zwar allem
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