So nah am Leben
denn überhaupt?
Samantha kann das Durcheinander in sich physisch fühlen. Was geht da gerade in ihr vor? Wieso ist sie derart verwirrt? Ihr Verstand arbeitet auf Hochtouren, und je mehr Fragen er zutage fördert, desto weniger Raum bleibt für die Antworten. Ganz schön geschickt eingefädelt, wenn auch nicht gerade neu; Samantha kennt dieses Spielchen bereits. Aber jetzt nimmt sie sich vor, diesem Verwirrspiel ein Ende zu bereiten und einfach zur ersten Äußerung zurückzukehren, an die sie sich erinnern kann.
Der Tod ist kein Zustand, sondern ein Übergang, fällt ihr wieder ein. Okay — und was geht in ein anderes Stadium über? Die Seele, tönt es in ihr ganz laut. Der Körper stirbt, damit die Seele wieder frei wird. Ach, daher weht der Wind! Ihr Verstand will sich also nicht mit solchen Begriffen wie „Seele“ auseinandersetzen, das ist für ihn nicht greifbar... deshalb die vielen Fragen und das Verwirrspiel. Samantha merkt, daß sie sich auf dem richtigen Pfad befindet. Der Körper — und damit auch der Verstand — ist der Wirt unserer Seele und dient als deren Ausdrucksform. Wenn sich die Seele nun verabschieden möchte, dann bleibt dem Körper nur der Tod. Die Seele dirigiert also den Körper, und wenn sie ihn verläßt, fehlt ihm die Grundlage seiner Existenz.
Samantha spürt ganz deutlich, daß ihr Verstand sie immer wieder vom Eigentlichen abbringen und auf eine allgemeine Ebene führen möchte. Sie will jedoch für sich eine persönliche Einstellung finden und formulieren. Wie geht sie mit dem Tod als solchem und mit ihrem eigenen um? Darum geht es ihr — nicht um Allgemeinplätze.
Wenn sie für sich anerkennt, daß die Seele gar nicht stirbt, sondern lediglich ihr grobstofflicher Leib, wenn die Seele nur den Standort wechselt — dann ist Angst doch unbegründet. Wenn sie dann noch einräumt, daß ihre Seele mit etwas anderem, etwas Größerem und Feinstofflichem verbunden ist, dann kann sie auch davon ausgehen, daß alles zum richtigen Zeitpunkt geschieht — auch wenn sie es in ihrer Grobstofflichkeit nicht sehen kann. Und dann ist der Tod tatsächlich nur ein Übergang.
Ein schöner Gedanke, findet sie, verbunden mit Gelassenheit und Hoffnung. Keine Angst, keine Abwehr — nur Vertrauen in die Richtigkeit des Universums.
Und was sagt ihr Verstand dazu? Der hat sich zurückgezogen, dem ist das alles viel zu vage. Er hält das alles für nicht belegbar und erklärt, damit möchte er nichts zu tun haben. Und sie kann ihn sogar verstehen, denn schließlich besteht eine seiner wichtigsten Aufgaben darin, für das Überleben zu sorgen — wie kann er sich da ernsthaft mit dem Tod auseinandersetzen?
Sie läßt ihm seine Bedenken und wandert mit dem guten Gefühl im Bauch weiter. Abschließend kommt ihr noch der Gedanke, daß sie sich für den Rest des Tages auch gern mit dem Leben beschäftigen möchte.
Sie staunt jeden Tag aufs neue , daß der Weg viel einfacher zu bewältigen ist, wenn sie ihre Gedanken mit Spazierengehen läßt. Dann geht sie wie von allein und setzt einfach einen Fuß vor den anderen. Sie saugt die Natur in sich auf, läßt sich von den mannigfaltigen Düften verführen und vernimmt die verschiedenen Geräusche der Landschaft. Das alles hilft ihr zudem, die Schmerzen in den Füßen zu vergessen.
Es sind nur noch ein paar hundert Meter bis nach Navarrete. Ein kleiner Ort auf einen Berg gepflanzt. Saubere, enge Gäßchen führen bis an die Spitze zur Kirche. Es ist fast achtzehn Uhr — der Ort ist wie ausgestorben. Langsam hat sie sich daran gewöhnt, daß die Menschen hier erst wieder gegen sieben Uhr abends zu sehen sind. Dann kommen sie rausgeputzt aus ihren Häusern mit Mann und Maus, Kind und Kegel, treffen sich an der Plaza vor der Kirche und tauschen die Neuigkeiten aus. Bis dahin: keine Menschenseele.
Samantha quält sich die letzten Meter den Berg hinauf und hält nach ihrem Hotel Ausschau. Sie kann die Straße nicht finden, läuft hin und her, und am Ende den Berg auch noch wieder hinunter. Man bedeutet ihr, daß das Hotel unterhalb der Stadt liege, und zeigt ihr die Richtung. Inzwischen irrt sie seit mehr als einer halben Stunde um diesen kleinen Ort herum und kann das Hotel nicht finden, bis niemand mehr auf den Straßen ist. Sie fühlt sich allein und ein bißchen armselig. Dann endlich erblickt sie eine junge Frau an einer Polizeistation.
Samantha wittert Rettung. Die junge Frau bespricht etwas mit einem Polizisten, der aus der Station vor den Zaun
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