So nah am Leben
Mensch. Sie gönnt sich einen ersten Café con Leche. Jetzt erst wird ihr wirklich bewußt, daß die letzten zehn Stunden ihr alles abverlangt haben, was sie geben konnte. Sie hat sich im absoluten Grenzbereich befunden. Nach dem zweiten Kaffee und einer Viertelstunde ohne Rucksack und Cape wird ihr Blick wieder fester und ihre Lebensgeister ziehen wieder in ihr ein.
Was soll sie nur machen? Das einzige Hotel hier ist ausgebucht, und es gibt nur eine Alternative: eine Herberge mit — sage und schreibe — einhundert Betten in einem großen Saal. Gerade erzählte ihr eine deutsche Frau, daß sie das unbedingt erleben müsse. Seit Hunderten von Jahren würden hier die Pilger schlafen und diese Energie wäre so gigantisch, das müsse jeder Pilger einfach erlebt haben. Die Frau war so euphorisch. Samantha nicht.
Oh nein, darauf möchte sie ganz entschieden verzichten. Die letzte Nacht steckt ihr noch in den Knochen. Und sie möchte eine Dusche und weiße Laken. Allein der Gedanke daran hat sie die letzten Stunden überstehen lassen. Sie will auf keinen Fall mit Hunderten von lebenden Pilgern und Tausenden von Pilgerspirits der vergangenen Jahrhunderte in einem Raum sein müssen. Sie muß eine andere Lösung finden.
Es regnet immer noch ohne Unterbrechung. Wenn sie jetzt nach draußen will, dann muß sie den Rucksack wieder auf die Schultern hieven, das Regencape läßt sie diesmal weg.
Samantha geht über die Straße und findet die Touristeninformation. Sie fragt nach alternativen Übernachtungsmöglichkeiten, aber die freundliche junge Dame schüttelt den Kopf.
Wenn sie hier nicht übernachten kann, dann muß sie eben in den nächsten Ort. Der ist ein paar Kilometer entfernt, eine Busverbindung gibt es nicht.
Ein Taxi? Ja, das gebe es schon, aber es komme aus einem größeren Ort, die Anfahrt sei teuer.
Samantha kann im Augenblick nichts mehr abschrecken, und sie bittet darum, ihr das Taxi zu bestellen.
Während sie auf das Taxi wartet, versucht die freundliche junge Dame auf ihre Bitte hin, ihr im nächsten Ort ein Hostal zu buchen. Samantha ist ihr sehr dankbar dafür, denn ihr Spanisch reicht zum Telefonieren leider nicht aus. Sie könnte sich zwar die Sätze zurechtlegen, aber die Antworten darauf würde sie schon nicht mehr verstehen, geschweige denn darauf reagieren können.
Es macht sie stutzig, daß die Angestellte nun schon das dritte Telefonat führt. Dann schaut sie auf und bedeutet Samantha, daß auch der nächste Ort ausgebucht sei. Sie versucht es weiter — im übernächsten Ort — auch der ist bereits komplett ausgebucht. Inzwischen ist der Taxifahrer da. Samantha bedankt sich, bezahlt die Telefonate, dann verschwinden ihr Rucksack und ihr nasses Regencape im Kofferraum des Taxis. Sie plumpst auf den Vordersitz. Und nun? Sie erklärt dem Fahrer ihre Situation, und er sagt, er hätte da ein paar Ideen. Er kenne Menschen, die Zimmer vermieten. Sie schaut ihn verzückt an.
Sie haben kein Glück. Seine Ideen erschöpfen sich, und sie hat immer noch kein Zimmer.
Inzwischen sind sie zwölf Kilometer gefahren, und sie muß eine Entscheidung treffen, das Taxameter tickt gnadenlos. Sie entscheiden gemeinsam, die Autobahn zu nehmen und es im nächsten, wirklich größeren Ort zu versuchen. Auf dem Weg dorthin verändert sich das Wetter. Sie sind auf der anderen Seite der Pyrenäen angekommen, und die Sonne strahlt ihr ins Gesicht.
Innerhalb einer halben Stunde ist sie aus dem kalten, nassen Wetter in die Sonne gefahren. Ihr Bauch sagt ihr, daß sie jetzt in Spanien angekommen ist. Und dann setzt sie das Taxi vor dem Hotel ab. Endlich bekommt sie ihre Dusche und die weißen Laken. Beides hat sie sich heute zweifelsfrei verdient.
Vorsichtig steckt sie ihren Kopf in die Tür zum Bad. Auf was darf sie sich freuen? Oh, ihr Herz hüpft, eine Badewanne! Schnell den Rucksack vom Rücken, alle nassen Sachen aus und dann in das heiße Wasser. Sie gleitet bis zum Hals in den Schaum und kann es kaum fassen. War das alles nur ein Traum heute oder hat sie das wirklich erlebt? Zehn Stunden Bergwandern mit Rucksack — ist sie das wirklich gewesen? Sie schließt die Augen und genießt die Wärme. Ihre Glieder und ihre Muskeln entspannen sich langsam. Und sie spürt das ganze Ausmaß ihrer Schmerzen, sie spürt beides: die wohlige Wärme und die Entspannung auf der einen Seite und alle Einzelteile ihres Körpers auf der anderen.
Nach der Wanne in die weißen Laken — sie liegt kaum drauf — und noch ehe
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