So schoen Tot
gefiltert, all der Schmutz und die kranken Teile, die in unserem Körper ihr Unwesen treiben, ihn schwächen und vergiften, werden hier aussortiert und entsorgt. Ich muss das alles auswendig lernen, wie heißen die Kapseln, die Zellen und Eiweiße?
Mir ist schrecklich heiß, und ich öffne das Fenster, auch wenn dann Annabells Lachen noch lauter wird, sonst ersticke ich hier an meinem Schreibtisch. Die frische Luft tut gut, aber nur für kurze Zeit, dann habe ich das Gefühl, mit der Hitze meines Zimmers die Außentemperatur in Berlin zum Ansteigen gebracht zu haben statt umgekehrt. Ich rieche den Schweiß unter meinen Armen, widerlich. Doch wann soll ich duschen? Seit Tagen trage ich dieselben Klamotten, ich komme zu nichts mehr wegen dieser Prüfung.
Diese Hand befindet sich immer noch an derselben Stelle. Sie gehört Jannik. Damit hat er gestern in der Anatomie noch an Leichen herumgeschnippelt. Die Muskulatur, dieer jetzt unter Annabells Jeans ertastet, lag da ganz offen vor ihm auf dem Metalltisch, wie kann er jetzt nur so unbefangen herumdoktern? Ich schaue genauer hin, seine Finger sind lang und die Nägel spitz, sie sehen aus wie fünf Skalpelle, die über Annabells Rundungen fahren. Und sie hat keine Angst, sie weiß nicht, in welcher Gefahr sie schwebt, Jannik wird sie operieren, wird sie erforschen, wird sie in ihre Bestandteile zerlegen.
Mir ist übel, ich schließe die Augen und öffne sie wieder und dasselbe noch mal. Aber es verändert sich nichts. Fünf messerscharfe Instrumente auf blauem Stoff.
Ich krame den Beipackzettel aus der Schachtel.
Adderall
, die nehme ich schon seit Beginn des Studiums. Hat mein Vater mir verschrieben, zum besseren Lernen. Konzentrationsoptimierung und Steigerung des Durchhaltevermögens verspricht die Beschreibung. Unter Nebenwirkungen finde ich unter anderem Mundtrockenheit, Tremor, Übelkeit, Herzrasen, Schlafstörungen, Halluzinationen, Aggressivität. Hab ich alles schon seit Tagen.
Draußen im Baum mischt sich ein Vogel zwitschernd unter das Gelaber vor meinem Fenster. Piep Piep und Bim Bam und das dumpfe Babla von Jannik und Ben. Die machen mich noch wahnsinnig.
Mir hüpft so ein Bild ins Hirn, klar: Das Studium funktioniert wie ein Blutkreislauf, rauscht immer wieder in denselben Bahnen seine Runden, Herzschlag und Lunge geben den Takt vor, rotes Blut in den Arterien, blaues Blut in den Venen. Aber neben diesen Adern fließt die Lymphe, sucht sich alles raus, was krank macht, und vernichtet es, weg damit. Auf einmal gefällt mir das, was ich auf dem Plakat sehe und nicht in meinen Kopf reinkriege, nun hab ich es endlich kapiert.
Jetzt würde ich gern schlafen, bin verdammt müde, völlig erledigt. Aber da geht so viel ab in mir, ich werde keineRuhe finden, das kenne ich schon. Das Handy klingelt. Mein Vater. Er will wissen, was das Lernen macht, ob ich vorankomme, und er erzählt, dass daheim alle ganz feste die Daumen drücken, wird schon werden, mein Junge, und grüße die Annabell, wenn du sie siehst.
Ich sehe sie ja. Direkt vor mir. Sie lässt sich gerade von Jannik in den Nacken beißen. Die Schlagader pulsiert, seine Zunge leckt an ihrem Ohrläppchen. Ich stelle mir den Speichel auf ihrer Epidermis vor, dahinter der vordere Teil des Gehörgangs. Mein Gott, das ist doch alles widerlich. Keime und Schleimhäute und Körperöffnungen.
Ich stehe auf und nehme mein kleines, schwarzes Etui aus der Schreibtischschublade, ein Geburtstagsgeschenk meiner Eltern. Ein Titanbesteck – für den Präparierkurs. Lange scharfe Klingen. Ich stecke es in die Tasche meiner Winterjacke, die ich mir hastig überwerfe.
Obwohl ich keinen Hunger habe, beiße ich noch einmal rasch in die kalte Pizza, die auf der Fernsehzeitung neben dem Nachttisch liegt. Einen Schluck aus dem Tetrapack, Multivitaminsaft, schon ein bisschen gegoren, aber egal, ich muss mich stärken. Dann verlasse ich mein Zimmer, nach was weiß ich wie vielen Tagen das erste Mal. Im Flur stehen Fahrräder, Kartons mit Altpapier und eine alte Teppichrolle. Das alles ist bei meinem letzten Ausflug in die Zivilisation auch schon dort gewesen. Ein Schlaksiger kommt mir entgegen, Erstsemester, so, wie der aussieht. Er grüßt kurz, ich sage nichts. Der ist in Ordnung. Ich bin aber auf der Suche nach Störobjekten. Also lasse ich ihn links liegen.
In unserem Studentenheim wohnen mehr als hundertzwanzig Leute. Die meisten bleiben nur ein paar Monate und suchen sich dann eine eigene Wohnung außerhalb des
Weitere Kostenlose Bücher