So schoen Tot
Klinikgeländes. Könnte ich auch machen. Aber das Schwesternwohnheim liegt hier um die Ecke, und AnnabellsLachen würde mir dann doch fehlen. Irgendwo in Berlin. Sie bringt immer noch ein bisschen Zuhause mit, wenn wir uns sehen. Erinnerungen an eine Zeit, in der das Medizinstudium noch eine Zukunftsvision war und nicht der knallharte Alltag. Ich wusste nicht, wie allein man dabei ist und dass immer alle was von einem wollen, und diese vielen verschiedenen Termine, die man koordinieren muss, immer drei Menüs zur Auswahl in der Mensa. Das ist mir zu anstrengend. Nur Annabell erinnert mich daran, dass es bloß eine Übergangszeit ist und ich irgendwann als Landarzt in mein Heimatdorf zurückkehre, und alles wird gut. Also verharre ich die besten Jahre meines Lebens auf fünfzehn mit Linoleum ausgelegten Quadratmetern. Und stolpere über den Unrat im Flur.
Vor dem schwarzen Brett stehen die Zwillinge aus Dresden. Sie sind beide dick und klein und schreiben nur Bestnoten. Das schwarze Etui liegt in meiner Jacke, mit einer Hand löse ich den Druckknopf, klappe den Deckel hoch, taste mich über die kühlen Metallgriffe. Sie diskutieren gerade über die Bauchspeicheldrüse, ihre kurzen Arme gestikulieren. Sie sind mir zuwider, denn wir haben im selben Jahr mit dem Studium begonnen, aber sie haben inzwischen schon die Famulatur absolviert, während ich mir noch immer an meinem Physikum die Zähne ausbeiße.
Ich habe die Wahl. Multiple Choice. Eine Frage. Vier mögliche Antworten. Was mache ich jetzt mit den Zwillingen? Antwort A: beide, Antwort B: die rechte, Antwort C: die linke. Ich entscheide mich für Antwort D und verschone die beiden. Sie diskutieren weiter, und ihnen ist völlig entgangen, dass sie soeben in Lebensgefahr geschwebt haben.
»Timo, endlich, ich dachte schon, du kommst gar nicht mehr ans Tageslicht!«, grüßt Annabell und löst sich aus Janniks Umarmung, als hätte es sie nie gegeben. Die beidenJungs sehen mich feindselig an. Sie mögen mich nicht. Sie halten mich für durchgeknallt. Da sind sie nicht die Einzigen. Bloß weil ich nie schlafe, nie esse und kein einziges Mal bei ihren Saufpartys mitgefeiert habe. Aber vielleicht zeigt sich auf ihren Gesichtern auch nur so wenig Sympathie, weil sie das Skalpell in meiner Hand bemerkt haben. Aufrecht wie die Spitze eines unüberwindbaren Zauns steht es in meiner Hand.
Sie haben Angst. Ich weiß eine Menge über Angst und die körperlichen Vorgänge, die sie von einem Moment auf den anderen auslösen kann. Das konnte ich mir immer gut merken: Ausschüttung von Adrenalin, Noradrenalin, Cortisol, und dann geht’s ab mit dem Kreislauf. Aber den beiden hat es wohl erst einmal ganz banal die Sprache verschlagen.
»Was ist denn los, Timo, geht es dir nicht gut?« Erst als Annabell die Klinge an Janniks Hals sieht, erstirbt ihr Lachen. »Mein Gott, Timo«, bringt sie heraus. »Warum tust du das?«
Endlich sind sie alle still. Lachen nicht, vergessen sogar zu rauchen. Sie starren mich nur an. Solange ich Jannik in meiner Gewalt habe, sind sie alle in meiner Hand. Die ganzen Elemente, die mich krank machen, die mich vom Lernen abhalten. Ich muss sie entsorgen.
Ben hat sein Handy am Ohr. »Hallo? Polizei? Ich glaub, hier läuft gerade einer Amok.« Seine Stimmlippen stehen auf Paramedianstellung, die Laute werden nicht mit den Kehlkopfröhren gebildet, das nennt man auch Flüstern.
Ich laufe Amok? So ein Quatsch! Nur Verrückte laufen Amok, Menschen, die nicht mehr Herr ihrer Sinne sind und die Kontrolle verloren haben. Bei mir ist das anders, nie im Leben war ich so dermaßen bei Verstand. Ich muss lachen.
»Das ist überhaupt nicht komisch«, sagt Annabell. Wennsie sich aufregt, klingt sie auch wie
St. Caesarius
. »Lass ihn los!« Bim Bam Bim.
Inzwischen sind unglaublich viele Leute stehen geblieben und starren mich an, aber keiner traut sich, einen Schritt auf mich zuzumachen. Ist auch besser so. Ich bin nämlich nicht gut in körperlicher Nähe. Mir ist es lieber, wenn Operationsbesteck zwischen mir und dem anderen die nötige Distanz schafft. Jannik fühlt sich ganz weich an in meiner Umklammerung.
»Willst du ihm etwa die Kehle durchschneiden?«, fragt Annabell atemlos.
Multiple Choice, denke ich. Ich habe die Wahl. Es ist meine Entscheidung.
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