So schoen und kalt und tot
haben mir ein schweres Erbe hinterlassen, als sie mir die Verantwortung für dich übertragen haben.“
„Ach Mel, ich weiß es doch.“ Schluchzend warf sich Alanis an Melanies Brust. „Ich will es dir ja auch nicht schwerer machen als es ist. Aber ich spüre, dass ein Unglück geschehen wird, wenn wir hier bleiben.“
„Du meinst den großen Unbekannten.“ Gegen ihren Willen glitt ein kaum merkliches Lächeln um ihren Mund. „Dieser Unbekannte ist die Zukunft, die noch im Dunkel vor uns liegt. Vor ihr fürchtest du dich – und ich muss gestehen, dass es mir ebenso ergeht. Auch ich fürchte mich davor, denn ich war noch nie in so einer schlimmen Lage, weder ein Dach über dem Kopf noch eine feste Anstellung zu haben. Aber wenn wir beide fest zusammenhalten, kann uns gar nichts passieren.“ Sie streichelte über das kühle, seidige Haar ihrer Schwester.
Alanis beruhigte sich überraschend schnell wieder. Entschlossen machte sie sich von Melanie los. „Du hast Recht. Wir schaffen das.“ Sie lächelte unter Tränen. „Mum fehlt mir sehr“, fügte sie hinzu, dann lief sie zu ihrer Tasche, wo sie die wichtigsten Kleidungsstücke hatte. „Ob der Laird unser restliches Gepäck von der Station holt?“, überlegte sie laut.
„Wenn ich die Arbeit bekomme werde ich ihn darum bitten“, rief Melanie zurück und betrachtete sich in dem ovalen Spiegel, der in dem kleinen angrenzenden Badezimmer über dem Waschbecken hing. Die langen blonden Haare hatte sie straff zurück gekämmt und im Nacken zu einem Knoten zusammengebunden.
„Bist du soweit?“
Alanis antwortete mit einem heftigen Hustenanfall.
„Was ist denn los?“ Erschrocken lief Melanie ins Nebenzimmer. „Hast du dich verschluckt?“
Mit weit aufgerissenen Augen starrte Alanis sie an. „Er war hier“, keuchte sie. „Da – zu diesem Fenster hat er hereingeschaut. Und als ich schreien wollte, hat er gelacht. Ich konnte sogar seine Zähne sehen. Er war da.“ Wieder hustete das Mädchen verzweifelt.
„Du wirst einen Schatten gesehen haben, der sich in der Fensterscheibe gespiegelt hat“, versuchte Melanie, die Schwester zu beschwichtigen, obwohl auch ihr im ersten Moment eine Gänsehaut über den Rücken gelaufen war.
Sie schaute sich in dem elegant eingerichteten Gästezimmer um. Da entdeckte sie die Spiegelkommode, die neben der Türe stand. Erleichtert atmete sie auf. „Vermutlich hat sich die Kerzenflamme in dem Spiegel gebrochen und das flackernde Licht hat dir eine Grimasse im Fenster vorgegaukelt. Bitte, Alanis, lass uns nach unten gehen. Unsere Nerven sind seit dem Mordfall im Zug ziemlich angeschlagen. Ein paar Tage Ruhe, und wir können über unsere Ängste endlich lachen.“
Alanis glaubte den Worten ihrer Schwester nicht, denn sie wusste, was sie gesehen hatte. Aber sie musste eingestehen, dass es in den letzten Wochen ziemlich viel war, was auf sie beide eingestürmt war. Sicher gab es für diese scheußliche Erscheinung eine vernünftige Erklärung, auch wenn sie diese jetzt nicht kannte.
Sie nickte zustimmend. „Auf in die Höhle des Löwen“, versuchte sie einen kleinen Scherz.
„In die Höhle des Laird“, berichtigte Melanie erleichtert. „Kann ich mich so zeigen? Ich denke, es macht einen besseren Eindruck, wenn ich meine Haare etwas strenger frisiere. Immerhin sollte ich den Eindruck einer guten Erzieherin auf den Kronprinzen dieser Familie machen.“ Sie lachte, und an ihren Mundwinkeln zeigten sich zwei winzige Grübchen.
„Du bist wunderschön wie immer“, meinte Alanis und hauchte der Schwester einen liebevollen Kuss auf die Wange. „Und – ich wollte dir nur sagen, dass ich weiß, dass sehr viel auf dir lastet. Was würde mit mir passieren, wenn ich dich nicht hätte? Vermutlich hätte man mich in ein Heim gesteckt, da wir keine weiteren Verwandten haben. Danke, Mel. Ich hoffe, ich kann wenigstens einmal in meinem Leben etwas von dem zurückgeben, was du für mich tust.“
Darauf wusste Melanie nichts zu sagen. Sie war gerührt und voller Liebe für die jüngere Halbschwester. Sie konnte ja nicht ahnen, wie bald schon Alanis dieser Wunsch auf entsetzliche Weise erfüllt werden würde, sonst hätte sie mit Sicherheit den nächsten Zug zurück nach London genommen.
So aber gingen die beiden Schwestern guten Mutes und voller Hoffnung auf die Zukunft die Treppe hinunter. In der Halle blieben sie zunächst stehen, denn sie
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