So schoen und kalt und tot
frei aufwachsen lassen, er sollte seine Kindheit auskosten. Aber jetzt ist es höchste Zeit, dass er etwas lernt.“
Melanie wich ihrem Blick aus. Ihr war, als würde eine eiskalte Hand ihren Brustkorb umklammern und sie am Atmen hindern. Am liebsten wäre sie aufgesprungen und hätte so schnell wie möglich das Zimmer verlassen. Aber das ging natürlich nicht.
„Nun, was sagen Sie dazu?“, hakte Lady Angela nach. „Wie Sie wissen hatten wir eigentlich Mrs. Mansfield aus London erwartet. Mein Mann sagte mir, dass sie vermutlich einer Gewalttat zum Opfer gefallen ist.“ Das Grauen, das sie in diesem Moment empfand, stand ihr ins Gesicht geschrieben.
„Countess auch“, warf Alanis traurig ein. „Sie hat so lange leiden müssen.“
„Wir wissen es inzwischen, Alanis“, unterbrach Melanie ihre Schwester etwas ungehalten. Sie wusste nicht, weshalb sie auf einmal so unfreundlich zu dem Mädchen war, doch etwas tobte in ihr, das sie nicht bezwingen konnte. „Du musst es nicht immer wieder erzählen. Mir tut es ebenso Leid wie dir.“
„Sorry“, sagte Alanis leise und schien regelrecht in sich hineinzukriechen. „Ich werde nichts mehr sagen.“
Mit dieser Reaktion hatte Melanie nicht gerechnet. Sie fühlte sich schuldig ihrer kleinen Schwester gegenüber, die noch mehr unter dem unerwarteten Tod der geliebten Mutter litt als sie selbst. Warum hatte sie auf einmal so wenig Verständnis für das Mädchen? Alanis war der einzige Mensch auf dieser Welt, der noch zu ihr gehörte. Hatte sie nicht allen Grund, dankbar für diese liebenswerte Schwester zu sein?
Melanie nahm sich fest vor, noch an diesem Abend mit Alanis zu reden und ihr genau das zu sagen. Die Schwester sollte aus ihrem Mund erfahren, wie wichtig sie ihr war und froh Melanie war, Alanis zu haben. Außerdem gab es da noch etwas, das ihr bis jetzt nicht so wichtig erschienen war, das aber mehr und mehr an Bedeutung zu gewinnen schien.
Bei dem Gedanken wurde es Melanie ein wenig leichter zumute. Zwar gingen die Schuldgefühle nicht ganz weg, aber sie verloren etwas an Gewicht. Alanis würde sie verstehen, so wie sie die große Schwester immer verstanden hatte.
„Könnten Sie sich vorstellen, ganz bei uns zu bleiben und Benjamin in allem zu unterrichten, was er für das spätere Leben braucht? Wenn möglich, soll unser Sohn in einigen Jahren in London studieren. Mein Mann und ich würden Ihnen jede erdenkliche Unterstützung zukommen lassen. Benjamin braucht eine feste und zugleich zarte, liebevolle Hand, die ihn entschlossen führt und sanft leitet.“ Angela lächelte kaum merklich, doch in ihren schönen blauen Augen stand diese geheime Bitte geschrieben, die man ihr fast nicht abschlagen konnte.
Melanie wollte nicht. Eine heftige Panik hatte sie erfasst, die es ihr unmöglich machte, Angelas Angebot anzunehmen. Sie öffnete bereits den Mund, um zu verneinen, da spürte sie eine kühle Hand in der ihren, die sie fest drückte. Beinahe ängstlich drehte sie den Kopf zur Seite und blickte zu ihrer Schwester, die ihr mit einem aufmunternden Blick zunickte. Sie sollte annehmen, Alanis wollte es so.
„Ich würde es sehr gern versuchen, Lady Angela, Ihren Sohn zu unterrichten, vorausgesetzt, Benjamin ist mit meiner Anwesenheit einverstanden und bereit, mit mir zusammen zu arbeiten.“ Sie schaute rasch zu dem Elfjährigen, der die ganze Zeit über gebannt der Unterhaltung der Erwachsenen gelauscht hatte.
„Nun, Benny, was sagst du zu deiner neuen Lehrerin?“ Laird Ian warf seinem Sohn, der ihm gegenüber saß, einen freundlichen aber zugleich bestimmenden Blick zu. „Was meinst du zu deiner neuen Lehrerin? Mrs. Barton hat ausgezeichnete Referenzen. Sie hätte eigentlich an einer Schule in Glannagan unterrichten sollen, aber da ist vermutlich ein Fehler passiert.“
„In Glannagan gibt es keine Schule“, knurrte Benjamin beinahe unfreundlich. „Da ist nur ein Friedhof und eine Kirche. Ich bin oft da“, fügte er emotionslos hinzu.
Warum nur wurde Melanie das Gefühl nicht los, direkt ins offene Messer zu laufen, ohne die Richtung ändern zu können? Das Angebot klang sehr verlockend und in ihrer gegenwärtigen Situation hatte sie so gut wie keine andere Möglichkeit, dieses auch anzunehmen. Und dennoch war ihr nicht wohl dabei. Im Gegenteil.
„Wir könnten zusammen zu dem Friedhof gehen“, schlug die junge Lehrerin vor und bereute im nächsten Moment bereits
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