So schoen und kalt und tot
wie sie das auch von London gewöhnt war. Diese kleinen Verbindungen zu ihrer Vergangenheit, die unwiederbringlich vorbei war, wollte sie so lange beibehalten, wie es möglich war.
Melanie verstand das, und eigentlich war sie ganz froh darüber, denn immer wieder musste sie an Chester Flannagan denken, der versprochen hatte, an diesem Nachmittag in Glannagan auf sie zu warten. Schon bei dem Gedanken an diesen Mann klopfte ihr Herz aufgeregt. So etwas hatte sie noch nie zuvor erlebt und es beunruhigte sie etwas.
Angela McGregor hatte beschlossen, den Nachmittag im vorderen Teil des Parks, der nahe am Castle war, zu verbringen. Es war ein ausgesprochen warmer Frühlingstag, sogar der Himmel erstrahlte in einem wässrigen Blau, was es um diese Jahreszeit hier selten gab.
Leslie lag in den Armen ihrer Mutter und schlief. Das hübsche Gesichtchen war rosig angehaucht, und die Lider mit den langen dunklen Wimpern lagen auf den zarten Wangen. Sie sah aus wie ein kleiner Engel.
Melanie konnte kaum den Blick von dem Mädchen wenden. „Sie ist ein bezauberndes Wesen“, sagte sie mit sanfter Stimme. Sie hatte Lady Angela in den Park begleitet und ihr die Karaffe mit dem frischen Getränk gebracht. „Ich könnte sie immerzu ansehen.“
„Wenn sie nur nicht so zart wäre“, antwortete Lady Angela bedrückt. „Leslie ist unser Wunschkind. Nach der Geburt der Zwillinge sah es so aus, als dürfte ich keine Kinder mehr bekommen. Leslie war also nicht geplant aber mehr als willkommen. Es war eine schwere Schwangerschaft, aber ich wusste ja, worauf ich mich einlasse. Und ich bereue nichts, auch nicht, dass ich dabei fast mein Leben verloren hätte.“ Verträumt schaute die Lady ihr Töchterchen an. „Ich liebe Leslie so sehr, dass es fast schon weh tut.“
„Das kann ich gut nachempfinden“, antwortete Melanie und lächelte ebenfalls. Einen Moment lang überlegte sie sogar, ob sie Lady Angela um Erlaubnis fragen sollte, dass sie sich eine Weile zu ihr setzte. Doch dann dachte sie wieder an Chester und verwarf diesen Gedanken, versprach jedoch, bald zurück zu sein.
Noch gut konnte sich Melanie an den Weg erinnern, den sie am Vortag gegangen war. Er war etwas vertieft und auf der kleinen Böschung rechts und links begann bereits spärliches Gras zu sprießen. Nicht weit entfernt standen niedrige Bäumchen, die krumm ihre teilweise verkrüppelten Äste in die Luft reckten.
Immer wieder blieb sie stehen. Sie war es nicht gewöhnt, auf dem Land zu leben. Zwar hatten sie ihr Haus auch nicht direkt in der Innenstadt von London gehabt, doch ein paar Stationen mit der Bahn hatten sie bereits ins Zentrum gebracht.
Melanie schnupperte. Hier war die Luft viel dünner und leichter als in London, stellte sie bei sich fest. Und sie duftete ganz anders, so nach frischer Erde, nach trockenem Gras und nach Staub, der aus Erde bestand.
„Ich beginne, dieses Land zu lieben“, jubelte die junge Frau und breitete beide Arme aus. Dann lief sie rasch weiter in Richtung Glannagan. Ihr Herz klopfte immer heftiger, und dann war da ein Gefühl, das sie nicht zu deuten vermochte. Es war wie das Singen des Windes, wie der Schein des Mondes und die Wärme der Sonne, deren Strahlen sie bis ins Innerste trafen.
Und dann war da vor ihrem geistigen Auge ein Gesicht, das sie nicht mehr hatte vergessen können, seit sie es zum ersten Mal gesehen hatte. Rotbraune Haare kringelten sich in großzügigen Wellen, die sich um die hohe Stirne schmiegten, und auf der Nase tanzten einzelne Sommersprossen. Der sanfter Blick aus eisblauen Augen streichelte ihre Seele. Dabei wusste Melanie nicht einmal, ob sie ihn heute überhaupt treffen würde.
Ihre Seele jubelte und in ihrem Kopf überschlugen sich die Gedanken. Sie lächelte vor sich hin und hätte viel lieber laut gesungen. Und dann sah sie in der Ferne Glannagan. Wie ein vergessenes Kleinod lag das Städtchen da inmitten einer kargen Landschaft, die vermutlich kaum das allernötigste zum Leben bot.
Der Weg war hier breiter und nicht ganz so holprig, denn an dieser Stelle mündeten auch die Wege von den übrigen Ortschaften, die weiter entfernt waren. Ausgefahrene Rinnen von den Wagenrädern machten das Laufen etwas schwerer, und beinahe wäre Melanie, die solche Wege aus London nicht gewöhnt war, einige Male gestürzt.
Dort vorne war der Friedhof. Einen Moment lang blieb sie stehen. Sie sah die einsame Gestalt sofort, die beinahe
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