So schoen und kalt und tot
der längst tot war. Würde man sie hier gefangen halten oder gar umbringen, wäre sie verschwunden für alle Zeiten.
Die Treppe erschien ihr endlos. Jeder Schritt bedeutete eine Überwindung für sie, denn sie wusste nicht, was sie oben erwartete. Immer wieder blieb sie stehen und lauschte. Doch nur die unerträgliche Stille war zu hören. Fast schien es, als sei das Castle schon lange ausgestorben.
Vorsichtig öffnete sie die erste Tür. Es war dunkel im Raum, auch hier brannten nur zwei Öllämpchen, was gerade ausreichte, die Umrisse der Einrichtung erkennen zu können.
Der Raum war leer.
Enttäuscht suchte Melanie weiter. Sie bereute bitte, allein gegangen zu sein. Um wie viel sicherer würde sie sich jetzt fühlen, wenn sie Chester an ihrer Seite wüsste.
Auch das nächste Zimmer war offensichtlich unbewohnt. Melanie wollte schon aufgeben. Vermutlich hatte sie sich alles nur eingebildet, auch den weißen Hund, der nur in der Fantasie ihrer kleinen Schwester gelebt hatte.
Gerade wollte sie sich umdrehen und zurückgehen, da fiel ihr Blick auf das Bild, das sie schon einmal gesehen hatte. Sie erkannte sich wieder, wenn auch mit kleinen Veränderungen.
Vielleicht war es ja die schummrige Beleuchtung, die ihr einen Streich spielte, oder sie träumte das alles nur. Sie musste sich nur ganz fest kneifen, dann würde sie aufwachen und alles war wie früher. Alanis würde an ihrem Bett stehen und sie lächelnd eine Schlafmütze heißen.
Alanis. Die bezaubernde Alanis, wo war sie geblieben? Wer hatte ihr etwas angetan? War sie hier auf dem Castle oder hatte jemand sie ins Moor verschleppt und sie war grauenvoll ertrunken?
Ein Schluchzen steckte in ihrer Kehle. Die Sehnsucht nach ihrer kleinen Schwester wurde immer unerträglicher. Auch das Kneifen hatte nichts gebracht. Sie hatte sich sogar verletzt dabei, doch sie war nicht aufgewacht.
Noch immer stand sie wie erstarrt und schaute das Bild an. Sie wusste, dass nicht sie es war, die dafür Modell gestanden hatte. Doch wer war diese Frau, die ihr glich wie ein Ei dem anderen?
Plötzlich hörte sie eine Türe gehen, ganz in ihrer Nähe. „Alanis?“, flüsterte sie, spürte jedoch, dass es nicht die Schwester war. Sie lauschte angestrengt, hörte die Treppe knarren. Jemand ging nach unten.
Vorsichtig, um kein unnötiges Geräusch zu verursachen, schlich Melanie den Gang entlang, dann nach links und stand in einem Flur, der, wenn überhaupt möglich, noch düsterer war als der, von dem sie gerade gekommen war.
Wieder waren auf beiden Seiten des Ganges Türen. In welchem der dahinter liegenden Räume war der Unbekannte gekommen? Hatte er hier Alanis versteckt? Und wenn ja, weshalb?
Die ersten beiden Räume waren ebenfalls leer.
Doch dann stand sie vor einer Türe, die etwas anders aussah als die bisherigen. Sie war breiter und mit schönen Ornamenten verziert. Das dunkle Holz glänzte ein wenig im Licht der Öllämpchen.
Melanie zitterte am ganzen Körper, als sie die kalte Türklinke herunterdrückte. Zu ihrer Überraschung ließ sie sich öffnen. Fast geräuschlos glitt sie zur rechten Seite auf.
Flackerndes Licht warf gespenstische Schatten auf den Boden, die einen heimlichen Geistertanz aufführten. Strenger Geruch nach verschiedenen Kräutern lähmte den Atem und trieb der jungen Frau Tränen in die Augen.
Sie prallte zurück. Das Bild, das sich ihr bot, würde sie nie wieder im Leben aus ihrem Gedächtnis löschen können. Es war so entsetzlich, so unglaublich, dass sie das Gefühl hatte, jeden Moment umsinken zu müssen, damit sie es nicht mehr ansehen musste.
Der Raum war fast rund. Viele kleine Öllämpchen an der Wand bildeten ein leuchtendes Band, das das Zimmer in zwei Hälften schnitt.
Aber das war es nicht, das Melanie so entsetzte.
In der Mitte des Raumes stand ein großer Tisch, eher eine Tafel. Sie war mit unzähligen Blüten geschmückt, und in der Mitte lag aufgebahrt – ein Mensch.
Die Szene war gespenstisch, schlimmer als jeder Alptraum. Als Melanie näher trat, erkannte sie, um wen es sich handelte. Ihre Angst schlug in Verzweiflung und Panik um. Es war ihre Schwester.
Reglos lag Alanis da. Sie trug ein Brautkleid, das schon sehr alt sein musste. Ihre langen dunklen Haare lagen wie ein Schleier auf dem seiden schimmernden Kissen, auf dem ihr Kopf ruhte. Die schmalen Hände waren mit Ringen geschmückt und lagen
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