So sinnlich wie dein Kuss
Wahrheit: Dass er sich nach einem frustrierenden Arbeitstag abreagieren musste.
Vor allem hatte er sich über seinen Cousin Ethan geärgert, der zwar vom Wein etwas verstand und ein hervorragender Kellermeister war – seine vielen preisgekrönten Weine bewiesen das –, dessen Sturheit aber unendlich nervte.
Ethan sollte unbedingt neue Wege gehen und nicht nur an den traditionellen Weinsorten der Masters festhalten, um konkurrenzfähig zu bleiben. Seit es vor ein paar Jahren zu den ersten Überschussproduktionen gekommen war, hatte er ihn immer wieder darauf hingewiesen. Aber Ethan war ein unbelehrbarer Sturkopf.
Judd seufzte leise. Ja, er konnte die Abwechslung, die Annas Gesellschaft versprach, gut gebrauchen.
„Und ich hoffe, Sie lassen es mich wissen, wenn ich etwas für Sie tun kann.“
„Danke für das Angebot, ich komme drauf zurück. Im Augenblick möchte ich mir einfach nur die wunderbare Landschaft ansehen, bevor es dunkel wird.“
„Dann lassen Sie sich nicht aufhalten. Sehen wir uns beim Abendessen?“
„Beim Abendessen?“, fragte sie.
„Ja, neu angekommene Gäste laden wir immer zu unserem Familiendinner ein. Den Gutschein dafür müssten Sie in Ihren Reiseunterlagen haben. Es beginnt um sieben Uhr mit Aperitifs im großen Salon.“ Er nahm ihre Hand. „Sie kommen doch, oder?“
„Ja, gern.“
„Sehr schön. Ich freue mich. Bis dann also.“ Er führte ihre Hand an die Lippen und hauchte einen Kuss darauf.
Einen Moment wirkte sie erschrocken, aber dann blitzte ihr Lächeln wieder auf, das ihn so stark ansprach.
Er sah ihr nach, wie sie in der Dämmerung davonging. Dann blickte er zur Ruine des neugotischen Herrenhauses in den Hügeln auf.
Mehr war vom ursprünglichen Heim der Masters nicht mehr erhalten, ein Buschfeuer hatte es vor langer Zeit zerstört. Bis zum heutigen Tag kündete die Ruine vom einstigen Glanz der Familie. Und von ihrem Kampf, sich nach diesem vernichtenden Rückschlag wieder emporzuarbeiten. Aber die Mühe hatte sich gelohnt!
Judd war stolz, zu dieser Dynastie zu gehören, auch wenn sein Name anders lautete. Er war ebenso Teil der Familie wie seine Cousins. Trotzdem fühlte er sich manchmal als Außenseiter. Vielleicht hatte er darum härter gearbeitet als alle anderen. Und das hatte The Masters unter seiner Führung zu einem Weltunternehmen gemacht. Damit hatte er die Erwartungen seiner Familie bei Weitem übertroffen.
Abwechslung hatte er sich schon lange nicht mehr gegönnt. Seit Monaten fraßen ihn seine Verpflichtungen schier auf. Und gerade an diesem Tag war ihm klar geworden, dass er sich bei allem Engagement im Grunde seines Herzens langweilte.
Ihm fehlte eine positive Herausforderung. Ein Flirt mit der zauberhaften Anna Garrick kam ihm da wie gerufen.
Er stapelte die Holzscheite auf und räumte das Werkzeug weg. Dann ging er zum Duschen in seine Suite.
Vor ihm lag die positive Herausforderung, die er dringend brauchte.
Frisch geduscht betrat er den Salon, in dessen Kamin ein Feuer brannte. Von draußen drang kühle Nachtluft herein.
Das gemeinsame abendliche Dinner mit den Aperitifs davor war eine altmodische Familiensitte, die weit in die Vergangenheit zurückreichte. Bis in die Zeit der Ruine auf den Hügeln. Judd empfand diese Einrichtung als charmante Reminiszenz an alte Zeiten, die außerdem den Zusammenhalt förderte.
Er sah sich um, nickte grimmig in Ethans Richtung und lächelte dann seiner Mutter zu, die elegant gekleidet in ihrem Sessel beim Kamin saß.
Von Anna noch keine Spur.
Er ging zum Sideboard und goss sich ein Glas Spätburgunder, einen Pinot Noir, ein. In diesem Moment sah er Anna hereinkommen. Sofort setzte er sich in Bewegung, aber seine Mutter war schneller.
Als er hinzukam, hörte er, wie sie Anna fragte: „Entschuldigen Sie, aber Sie kommen mir so bekannt vor. Waren Sie schon einmal hier?“
Zu seiner Überraschung wirkte Anna ziemlich erschrocken.
„N…nein“, antwortete sie. „Das ist mein erster Aufenthalt in Südaustralien.“
Sie lächelte, aber weniger natürlich als sonst. Was steckte hinter diesem merkwürdigen Verhalten? Die Sache mit Anna Garrick versprach, interessant zu werden.
„Vielleicht haben Sie eine Doppelgängerin. Angeblich haben wir das alle.“ Geschickt überspielte Cynthia die Situation. „Sagen Sie, meine Liebe, was darf Ihnen Judd zu trinken holen?“
„Ein Glas Sauvignon Blanc, bitte. Ich habe gehört, zwei ihrer Sauvignon-Weine wurden vor Kurzem prämiert.“
„Ja“,
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