So sollst du schweigen: Roman (German Edition)
betreten und verlassen müssen. Ich suchte die Menge nach Gemma ab. Eine Klasse nach der anderen verließ das Gebäude, als ich endlich ihren roten Schopf ausmachte. Sie war in Begleitung von zwei Mädchen. Die drei blieben unter der großen Platane stehen und verstauten ihre Bücher in den Schultaschen. Gemma und das eine Mädchen winkten der dritten zum Abschied zu und gingen unter Kichern und angeregtem Geplauder davon.
Ich sah ihr nach, bis sie um die Ecke bog. Erst jetzt wurde mir bewusst, dass ich die ganze Zeit den Atem angehalten hatte. Keine Ahnung, was ich erwartet hatte – ein einsames, bleiches Mädchen, eine verlorene Seele inmitten all der anderen? Aber sie war nicht ich. Ich musste sie loslassen. Es gab nichts mehr, was ich für sie tun konnte – lediglich für sie da zu sein, falls sie mich brauchte.
Ich blieb vor dem Hotel stehen und sah den Kindern zu, wie sie aufbrachen. Als alle fort waren und sich die Schultore schlossen, setzte ich mich auf eine Stufe, legte den Kopf auf die Knie und weinte insgeheim um Caroline Stern, um Helen Winters und all die anderen Kinder, deren Seele zerstört worden war und die zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen waren.
Am nächsten Tag kam ich wieder, am übernächsten ebenfalls. Ich setzte mich vor das Hotel und wartete. Am dritten Tag war ich bereit. Ich wollte endlich meine Mutter sehen. Wollte sie zur Rede stellen. Ich wollte bereinigen. Ich wollte meine Geburtsurkunde haben. Meine Identität zurückholen. Ich wollte dieses Baby ohne irgendwelche Altlasten austragen. Diesmal war mir nicht übel. Diesmal ging ich ohne Umschweife auf das Haus zu.
Ich erklomm die Stufen zum Vordereingang, die im Lauf der Jahre einen stumpfen Glanz angenommen hatten. Vor der Eingangstür blieb ich stehen. Noch war es nicht zu spät. Ich konnte jederzeit umkehren. Aber ich tat es nicht.
Rechts von mir erblickte ich das Verlies. Wie klein es war! Mit angehaltenem Atem drückte ich auf den Summer. Zu meiner Zeit hatte es keinen gegeben, sondern nur einen Türklopfer, als wäre dies ein ganz normales Wohnhaus.
»St. Augustine’s«, drang eine Frauenstimme aus dem Lautsprecher. Ich kannte diese Stimme, den leisen, sanften, samtigen Tonfall, der Butter zum Schmelzen bringen konnte. Aber mich würde sie damit nicht erweichen.
Ich räusperte mich.
»Ich möchte Judith Stern besuchen«, sagte ich.
Die Tür ging auf.
Als Erstes sah ich den schwarz-braun-weißen Mosaikfußboden, und sein Anblick war wie ein Schlag auf den Kopf. Ich trat ein und schloss die Tür hinter mir. Damit war ich endgültig in der sprichwörtlichen Höhle des Löwen, und mit dem Klicken des Schlosses gab es auch kein Zurück mehr. Das Haus war verwaist, genau wie ich es für einen Samstagnachmittag erhofft hatte.
Schon jetzt erschien mir irgendetwas anders, abgesehen von der Tatsache, dass es geschrumpft zu sein schien. Aber was? Ich trat durch die gläsernen Doppeltüren. Dann wusste ich es auf einmal: Es lag nicht nur an dem alten roten Teppich, der durch einen grünen ersetzt worden war, und an den fehlenden grün-goldenen Relieftapeten an den Wänden, sondern daran, dass das Gebäude mittlerweile wie eine Schule aussah. Die strenge Schmucklosigkeit war verschwunden, stattdessen war die Gegenwart von Kindern überall spürbar. Es gab Farben! Das Klassenzimmer zu meiner Linken sah nicht länger wie ein Tagungsraum aus, sondern wie ein richtiges Klassenzimmer, und hatte eine halb verglaste Tür, wie man sie aus normalen Schulen kannte. Und es gab auch keine Tische mit Kalligrafiebrettern, Schreibfedern und Tintenfässern mehr – nein! Stattdessen war der Raum mit gewöhnlichen Schulpulten bestückt. An den Wänden hingen Bilder von Kindern und Gedichte, genauso wie man sie in der Welt draußen an jeder Ecke fand.
Allerdings roch es nicht so wie in einem gewöhnlichen Schulgebäude; stattdessen hing der Duft von frisch gebackenem Brot, Messingpolitur und gemahlenem Kaffee in der Luft. Dass es wie in einer normalen Schule roch, bekamen sie augenscheinlich nicht hin. Wenn ich eines Tages eine Schule für mein eigenes Kind suchen musste, würde ich die Bedeutung des Geruchs keinesfalls unterschätzen. Ich wollte eine, in der es nach gedünstetem Kohl und nach Sägemehl roch.
Der Kronleuchter war noch derselbe, ebenso wie die verspiegelte Wand am Treppenabsatz im ersten Stock. Aber ich ging nicht hinauf, sondern trat zögernd an dem Klassenzimmer vorbei, wohl wissend, was gleich kommen würde. Bevor
Weitere Kostenlose Bücher