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So sollst du schweigen: Roman (German Edition)

So sollst du schweigen: Roman (German Edition)

Titel: So sollst du schweigen: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clara Salaman
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wusste ich, dass das niemals passieren würde. Und nicht nur, weil sie meinen richtigen Namen nicht kannten. Also tat ich einfach immer so, als käme mich jemand besuchen, und hängte mich an die Besucher anderer Patienten dran. Besonders gern mochte ich eine Frau, die regelmäßig ihren Sohn besuchen kam. Sie war schön und warmherzig, wie eine Mutter sein sollte. Manchmal lief ich ihr entgegen und schlang die Arme um sie, wenn sie kam. Es schien sie nicht zu stören. Sie schenkte mir sogar etwas zu Weihnachten – ein Paar weiche rosa Socken. Und sie erlaubte mir, sie »Maman« zu nennen.
    Aber eines Tages, als ich die Arme um Mamans Taille schlang, ganz fest, so wie ich es am liebsten tat, befahl mir die Schwester, sie loszulassen. »Madame möchte ihren Sohn allein besuchen«, erklärte sie.
    »Nein!«, rief ich und verstärkte meinen Griff.
    Maman strich mir übers Haar und erklärte der Schwester, es sei schon in Ordnung. Es störe sie nicht, und ich dürfe gern bei ihr bleiben. Aber die Schwester versuchte mich von ihr wegzuziehen, also schlang ich die Arme noch fester um Mamans mollige Taille. Schließlich wurde die Schwester böse und beschimpfte mich auf Englisch als »böses Mädchen«.
    »Lass los, du böses Mädchen!«, zeterte sie.
    Das war’s. Ich drehte durch, begann sie zu treten und biss ihr so fest in die Hand, dass ich ihr galliges französisches Blut auf meiner Zunge schmeckte.
    »Ich bin nicht böse«, schrie ich. »Ich bin nicht böse. Ich bin nicht der Teufel. Ich bin ein braves Mädchen. Ein braves Mädchen. Sag es ihr, Maman. Sag ihr, dass ich ein braves Mädchen bin. Und sag ihr, dass du mich lieb hast!«
    Doch Maman begann zu weinen, ich ebenfalls, und dann sah ich den Mann mit der großen, großen Spritze kommen, während sogar Maman meine Hände um ihre Taille löste.

10
    Bei der nächsten Therapiesitzung setzte ich Gemma unangemessen heftig zu. Sie sah besser aus denn je, hatte bestimmt sechs Kilo zugelegt und sogar rosige Wangen. Sie sah hübsch aus und schien bester Dinge zu sein. Es fiel mir schwer, sie so zu sehen. Was für eine Verwandlung innerhalb so kurzer Zeit! Natürlich war ich höchst argwöhnisch.
    »Hast du das Gefühl, St.   Augustine’s wegen deiner Eltern positiv gegenüberstehen zu müssen?«, fragte ich und sah zu, wie sie mit verblüffender Souveränität die Beine übereinanderschlug.
    »Nein.«
    »Empfindest du die Disziplin als zu anstrengend?«
    »Nein.«
    »Mir kannst du es ruhig sagen, Gemma. Du musst sogar.«
    »Nein, es ist alles bestens. Mir gefällt die Disziplin dort sogar. Meine andere Schule habe ich gehasst.«
    »Zwingen sie dich, irgendwelche Dinge gegen deinen Willen zu tun? Meditieren, zum Beispiel?«
    »Nein. Niemand wird zu etwas gezwungen.«
    »Schikaniert dich die Schulleiterin?«
    »Nein. Eigentlich sehe ich sie gar nicht so oft.«
    Es war zwecklos. Und ich glaubte ihr kein Wort.
    »Weißt du schon, ob du nach deinem sechzehnten Geburtstag ein langes Kleid tragen musst?«
    Sie sah mich an, als wäre ich geistig verwirrt.
    »Du kannst ganz offen mit mir reden, Gemma.«
    Schließlich seufzte sie und kreuzte die Arme vor der Brust. »Können Sie sich nicht einfach freuen, dass es mir gut geht? Was ist nur mit euch Typen los? Ständig müsst ihr nach einem Haar in der Suppe suchen.«
    Das ließ mich verstummen. »Tut mir leid. Natürlich freue ich mich für dich, Gemma. Sehr sogar. Du siehst … gut aus. Sogar wunderschön«, erklärte ich seufzend.
    Verlegen verdrehte sie die Augen, doch ich sah ihr an, dass sie sich geschmeichelt fühlte. »Danke für alles, Lorrie«, sagte sie und stand auf. Es klang gefährlich nach Abschied.
    »Ich sehe dich nächste Woche.«
    »Ich glaube, ich möchte eine Weile mit den Therapiestunden aussetzen«, meinte sie. »Ich will mich selbst um meine Probleme kümmern und muss mir über ein paar Sachen klar werden.« Ich hatte gewusst, dass sie das sagen würde, trotzdem wollte ich sie unter keinen Umständen einfach gehen lassen und ihnen damit den Weg frei machen. Mir war klar, dass ich zu forsch vorgegangen war.
    Ich schob meinen Stuhl zurück und trat um den Tisch herum. Wie tapfer sie war. Ich schloss sie in die Arme.
    »Du hast dich gut gemacht, Gemma. Wirklich ausgezeichnet. Ich kann dir gar nicht sagen, wie sehr ich mich freue, dich so zu sehen.«
    Sie lächelte.
    »Und jetzt hör mir gut zu«, fuhr ich fort. »Du kannst mich jederzeit auf dem Handy anrufen. Okay? Jederzeit, Tag und Nacht. Versprich mir,

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