So sollst du schweigen: Roman (German Edition)
ersten Stock in der sicheren Erwartung hinüber, mich selbst als Mädchen darin zu sehen – in dieser abscheulichen Uniform, dem streng aus der Stirn frisierten Haar und dem bleichen, hohlwangigen Gesicht. Stattdessen blickte mir eine erwachsene Frau entgegen. Eine Überlebende. Ermutigt von meinem Anblick, nahm ich die Sonnenbrille ab und ging weiter.
Mir fiel wieder ein, wie schnell ich früher auf dem Weg zu irgendwelchen Besorgungen diese Treppen hinauf- und hinuntergelaufen war und an jeder Biegung einen Sprung um hundertachtzig Grad vollführt hatte. Endlich stand ich vor Zimmer 4.
Aus diesem Zimmer war ich häufiger hinausgeschickt worden, als ich die vedischen Sutras gesungen hatte. Noch immer wirkte das Gebäude verwaist, trotzdem warf ich zur Sicherheit einen Blick ins Treppenhaus. Weit und breit war niemand zu sehen. Vorsichtig legte ich die Hand auf die Türklinke und drückte sie nach unten. Kaum hatte ich die Tür geöffnet, war es, als hätte ich den Deckel einer Spieluhr aufgeklappt, nur dass mir statt der Klänge von Schwanensee eine Flut von Erinnerungen entgegenschlug: Versammlungen, vedischer Tanz, Prüfungen, Gesangsstunden, Schulfeiern, Strafen, Eckestehen, Demütigungen, Hunger, Schläge mit dem Lineal auf die Hände, unterdrücktes Gelächter, gegen die Wand gepresste Gesichter.
Ich schloss die Tür wieder.
Instinktiv legten sich meine Hände auf meinen Bauch, wenn auch eher, um mich selbst zu schützen als die kleine Krabbe in mir. Lautlos ging ich die nächste Treppe hinauf. Der Teppich und die steinernen Stufen schienen jegliches Geräusch zu schlucken.
Vor mir befand sich der Bestrafungsraum, eine winzige Zelle, die gerade genug Platz für einen Schüler und ein Kalligrafiebrett bot. Jedes Kind musste mit der Feder kerzengerade Linien darauf zeichnen, wobei jedes Zittern als Zeichen dafür galt, dass man log. Ich öffnete die Tür und ging hinein. Heutzutage schien der Raum als Lager für Schreibwaren zu dienen. Aha! Ich zog die Schubladen auf. Tintenfässer, Federn, ja, Sanskritfedern. Danke, lieber Gott. Endlich hatte ich etwas gefunden, was sie verriet.
Der wichtigste Teil des Raums jedoch war das Fenster. Natürlich war der Ausblick noch immer derselbe – die Platane, deren Äste sich im Wind bewegten, und der Kirchturm. Ich stellte mir vor, wie an jenem bewussten Tag jemand hier oben gestanden und Miss Fowlers Leiche auf den mit Erbrochenem besudelten Stufen hatte liegen sehen, das graue Haar wie ein Fächer um ihr Gesicht ausgebreitet. Die Streifenwagen, der Notarzt.
Ich verließ den Raum. In den angrenzenden Zimmern war eindeutig einiges passiert: Man hatte ein Labor eingerichtet, das geradezu beunruhigende Ähnlichkeit mit den Laboren in gewöhnlichen Schulen aufwies, wie aus einer Werbebroschüre – nur die Schüler mit den Schutzbrillen hinter den Bunsenbrennern fehlten. Neugierig trat ich ein.
Ich ging herum und ließ die Atmosphäre auf mich wirken. Also hielten sie richtigen Unterricht ab, ja? An den Wänden befanden sich Tafeln mit Diagrammen und dem Periodensystem, und es gab sogar ein schickes Whiteboard, was Eltern wie die Jamesons gewiss ganz besonders beeindruckte. Wahrscheinlich hatte auch Gemma hier drin Unterricht. Ich sah mich um, auf der Suche nach einer Klassenliste oder beschrifteten Kleiderhaken mit ihrem Namen darauf.
Während ich den Blick über die Regale schweifen ließ, drang gedämpftes Husten an meine Ohren, das im hinteren Teil des Labors eindeutig lauter wurde. Es war kein gewöhnlicher Erkältungshusten, sondern das Keuchen eines schweren Rauchers, erstickt und so schlimm, dass man fürchtete, derjenige sterbe im nächsten Moment. Ich folgte dem Geräusch, konnte jedoch niemanden finden. Erst jetzt fiel mir das hintere Treppenhaus wieder ein. Der Husten kam eindeutig aus dieser Richtung.
Im hinteren Teil des Gebäudes verlief eine steinerne Wendeltreppe über die gesamte Höhe, zu der uns Kindern der Zutritt strengstens verboten gewesen war, was sie jedoch umso anziehender gemacht hatte. Sie war zum bevorzugten Versteck avanciert. Die Stufen führten zu den Räumen im obersten Stockwerk, in denen leidenschaftliche Anhänger der Organisation ihre Meditationsprüfungen abhielten. In Notfällen wurden hier auch Mitglieder untergebracht. Beispielsweise hatten Hannah und ihre Mum eine Zeit lang dort gewohnt, nachdem ihr Vater fortgegangen war. Es war eine Zufluchtsstätte für all jene, die einen Verlust zu betrauern hatten, deshalb erschien es
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