So sollst du schweigen: Roman (German Edition)
dass du das tun wirst. Wenn es irgendetwas gibt, worüber du mit mir reden musst, rufst du mich einfach an. Ich bin immer für dich da. Hast du mich verstanden?«
Sie nickte.
Sie verließ das Zimmer, während ich mit einem Gefühl der Leere und Verlorenheit zurückblieb.
In dieser Nacht machte ich kaum ein Auge zu, obwohl ich todmüde war. Meine Gedanken überschlugen sich, und als der Morgen graute, wusste ich, was ich zu tun hatte. Ich würde selbst herausfinden, ob mit Gemma wirklich alles in Ordnung war. Ich musste es mit eigenen Augen sehen. Deshalb würde ich nach St. Augustine’s fahren und mich davon überzeugen. Auch wenn ich nicht ganz sicher war, ob es mich wegen Gemma oder wegen meiner Mutter dort hinzog, wusste ich eines ganz genau: Ich würde einen Fuß über die Schwelle dieses verdammten Hauses setzen, und wenn es mich umbrachte.
Es klang so einfach, aber das war es nicht. Ich konnte mich nicht überwinden. Es dauerte eine geschlagene Woche, bis ich den Mut dafür aufbrachte. Doch in meinem Bauch wuchs ein Baby heran, deshalb konnte ich das Unvermeidliche nicht ewig hinauszögern.
Ich wählte mein Outfit mit großer Sorgfalt und entschied mich für schwarze Jeans – allein aus Prinzip. Mittlerweile spannte der Bund in der Taille, so dass ich sie tief auf der Hüfte sitzend tragen musste. Darüber zog ich eine weite schwarze Strickjacke an – Schwarz erschien mir eine angemessene Farbe für die Aufgabe, die mir bevorstand. Irgendwann wurde mir bewusst, dass ich mich verkleidete. Ich legte mehr Make-up als sonst auf, außerdem hatte ich ursprünglich vorgehabt, mein Haar zu einem Zopf zu frisieren, besann mich jedoch eines Besseren – die Organisation billigte offenes Haar nicht, deshalb löste ich den Zopf wieder. Ehe ich mich auf den Weg machte, setzte ich eine große schwarze Sonnenbrille auf.
Ich konnte mich nicht überwinden, mit der U-Bahn zu fahren. Seit ich erwachsen war, hatte ich nie wieder die U-Bahn nach South Kensington oder zur Gloucester Road genommen. Es wäre verrückt gewesen, eine völlig unnötige Liebäugelei mit dem Leid von einst. Außerdem bezweifelte ich, dass ich rein körperlich dazu in der Lage gewesen wäre.
Also ging ich zu Fuß die Portobello hinauf und nahm den Bus von Notting Hill, so dass ich mich von Norden her nähern würde, was ich sonst nur selten tat.
Doch selbst dieser Weg entpuppte sich als erstaunlich schwierig. Als der Bus in die High Street Kensington einbog, spürte ich, wie sich mein Magen krampfhaft zusammenzog. Eilig stieg ich aus und lief los, um mich nicht in die Gosse zu übergeben. Ich ging nach Osten bis zum Hyde Park und bog dann nach rechts in die Straße ein, in der sich die Organisation befand. Ich musste mich regelrecht zwingen weiterzugehen, während mich ein vertrautes Gefühl des Grauens durchströmte, obwohl ich aus freien Stücken hergekommen war.
Ich blickte auf meine in Turnschuhen steckenden Füße, die sich wie eigenständige Wesen vorwärtsbewegten; so als wären sie nicht länger Teil meines Körpers. Wahrscheinlich hätte ich das Haus mit der Nummer 50 auch blind gefunden. Ich wusste genau, wie viele Schritte es waren, allerdings stellte sich heraus, dass ich mich geirrt hatte – entweder war die Straße kürzer, oder meine Beine waren länger geworden.
Während des gesamten Weges hielt ich nach Insassen aus dem Irrenhaus Ausschau. Sie waren so einfach auszumachen. Einen hatte ich bereits entdeckt. Obwohl sie sich verändert hatten, erkannte ich sie auf den ersten Blick wieder: Die Röcke waren eine Spur kürzer als früher und streiften nicht länger auf dem Boden, sondern gaben aufreizend viel vom Knöchel frei. »Bequemes Schuhwerk« stand immer noch hoch im Kurs, nur dass mittlerweile Dr. Scholl die angesagte Marke war. Und ich ließ mich nicht von einer trendigen Kette oder einer Jeansjacke in die Irre führen – stattdessen roch ich sie selbst heute noch aus hundert Metern Entfernung, wie ein gut abgerichteter Jagdhund. Bei den Männern war es ein klein wenig schwieriger, doch sie trugen vorzugsweise Blazer und Cordhosen und wirkten allesamt sehr ordentlich und anständig. Ein Merkmal konnten sie sich allerdings nicht abgewöhnen: dieser wohl einstudierte Gesichtsausdruck, der irgendwo zwischen gottgefällig und blasiert rangierte.
Im ersten Anlauf schaffte ich es nicht – bereits beim ersten Anzeichen eines langen Rocks verweigerten meine Füße ihren Dienst. Ständig rechnete ich damit, erkannt zu
Weitere Kostenlose Bücher