Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
So sollst du schweigen: Roman (German Edition)

So sollst du schweigen: Roman (German Edition)

Titel: So sollst du schweigen: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clara Salaman
Vom Netzwerk:
ich um die Ecke bog, blieb ich noch einmal kurz stehen und holte tief Luft. Da war sie, die Tür, die mir vertrauter war als alles andere auf der Welt, bis zum winzigsten Splitter im Holz: die Tür zu ihrem Arbeitszimmer.
    Die Türklinke und das Messingblatt waren nach unten versetzt worden. Ich fragte mich, weshalb. Erst nach einer Weile dämmerte es mir: Ich war lediglich größer als damals. Vorsichtig streckte ich die Hand nach der Türklinke aus, als hätte ich Angst, sie stünde unter Strom. Langsam fuhr ich mit den Fingerspitzen die Umrisse nach und betastete das Türblatt mit beiden Händen. Wie oft hatte ich auf das glänzende Messing gestarrt und mein verzerrtes, verquollenes Gesicht darin erkannt? Links von mir befand sich die Rohrleitung, meine warme Freundin, die mittlerweile mit einem frischen Anstrich versehen worden war. Behutsam fuhr ich mit der Stirn über ihre glatte Oberfläche.
    »Hallo?«, hörte ich eine Stimme hinter mir – wieder diese typische Organisationsstimme, weich und leise. Erschrocken fuhr ich herum und sah eine Frau im Türrahmen am Ende des Korridors stehen; wahrscheinlich dieselbe, die mir die Tür geöffnet hatte. Bestimmt war sie die Schulsekretärin, die aus reiner Güte ihres spirituell gebildeten Herzens Überstunden machte. Sie lächelte. Ich kannte dieses Lächeln. Und erwiderte es nicht.
    »Bitte, kommen Sie ruhig herein«, lud sie mich ein, woraufhin ich ihr ins Sekretariat folgte. Zumindest war es früher das Sekretariat gewesen. Und heute ebenfalls noch, wie ich nun feststellte.
    Es hatte sich kaum verändert, nur dass auch dieser Raum geschrumpft zu sein schien. Wie oft hatte ich hier gesessen und auf Miss Fowler gewartet. An der Wand hing Botticellis Primavera . Wie hatte ich das vergessen können? Fünf alberne Nymphen, die in einem Garten umherhüpften. Mittlerweile hatte das Bild Gesellschaft von ein, zwei uninspirierten Aquarellen und der auf einem Sockel stehenden Bronzeskulptur eines Männerkopfs mit pausbäckigem Gesicht und platter Nase bekommen – ein dilettantisches Oberstufenkunstwerk, das zweifellos den Händen irgendeines Betbruders entstammte, der innerhalb der Organisation Karriere gemacht hatte.
    Hier drinnen gab es nicht viel, was darauf hindeutete, dass zwei Jahrzehnte vergangen waren, mit Ausnahme des altmodischen grauen Computerungetüms, dessen Einzug garantiert nur widerstrebend hingenommen worden war. Ich ging jede Wette ein, dass der Whopper sich mit Händen und Füßen gegen die moderne Technik sträubte, und hätte das Eingeständnis der eigenen Fehlbarkeit nur zu gern mit angesehen.
    Die Frau griff nach dem Hörer und wählte eine hausinterne Nummer.
    »Judith«, sagte sie. »Hier ist Besuch für dich.« Das Lächeln verharrte auf ihren Zügen. »Ja«, fügte sie hinzu, ehe sie die Hand über die Sprechmuschel legte. »Wen darf ich melden?«
    Ich hätte es wissen müssen. Einen Moment lang überlegte ich, ob ich kehrtmachen und wieder gehen sollte, doch es war zu spät, um einen Rückzieher zu machen.
    »Sagen Sie ihr, Caroline sei hier.« Ich schob mir die Sonnenbrille ein Stück auf der Nase hoch.
    »Caroline ist hier«, wiederholte die Frau. »Hallo? Judith? Hallo?« Ich konnte mir die verblüffte Miene meiner Mutter bildlich vorstellen. »Ja, das werde ich tun!« Die Frau legte auf und wandte sich mir zu. »Sie sagt, Sie sollen nach oben kommen.«
    »Danke. Welches Zimmer?«
    »Ganz oben. Soll ich Sie hinbringen?«
    »O nein«, wiegelte ich ab. »Das ist nicht nötig.«
    »Waren Sie schon einmal hier?«, erkundigte sie sich und musterte mich verstohlen von oben bis unten. Ich trug noch immer meine Verkleidung – Hosen, das Make-up, das offene Haar und die Sonnenbrille, die meine Nicht-Zugehörigkeit wie beabsichtigt überdeutlich machte.
    »Ja«, erwiderte ich. »Ein-, zweimal.«
    Doch ich schaffte es nicht bis ins oberste Stockwerk.
    Es erwies sich als extreme körperliche Herausforderung, die Stufen zu erklimmen. Der dicke grüne Teppich stand über den Stufenkanten ein klein wenig ab, sodass der Stein darunter zum Vorschein kam. Ich sah zu, wie meine Füße eine Stufe nach der anderen bezwangen, und umklammerte das Treppengeländer; das glatte dunkle Holz, das sich Stockwerk um Stockwerk schlangengleich emporwand. Auch hier erinnerte ich mich an jede einzelne Maserung im Holz. Wann immer ich meine Finger von ihm löste, gaben meine schweißnassen Handflächen ein leises Schmatzen von sich.
    Ich blickte zu der verspiegelten Wand im

Weitere Kostenlose Bücher