So sollst du schweigen: Roman (German Edition)
werden. Was ich unter keinen Umständen wollte. Deshalb gelangte ich zum Schluss, dass es einfacher wäre, zuerst einen Blick aus der Ferne auf das Gebäude zu werfen, und überquerte die Straße.
Links von mir befand sich St. Mary’s mit den weißen Steinstufen und der großen Platane davor. Es war ein bewölkter Tag, nicht wie damals, als Miss Fowler sterbend im Sonnenschein auf den Stufen gelegen hatte. Mörder kehren stets an den Tatort zurück, heißt es ja immer. Tja, ich hatte mir jedenfalls Zeit gelassen.
Ich ging nicht bis zur Kirche, sondern blieb vor einem Hauseingang stehen, den die stinkende alte Obdachlose einst als Zuhause und Privattoilette genutzt hatte. Mittlerweile war ein hübsches Hotel in dem Gebäude untergebracht, in dem gepflegt aussehende Leute ein und aus gingen.
Ich lehnte mich gegen das Geländer und gestattete mir einen Blick auf die andere Straßenseite. Da war es, unverändert und so vertraut wie meine eigenen Hände – die große Platane mit dem fleckigen Stamm, die Ziffern 50 und 51 in Kalligrafieschrift auf den weißen Säulen, die hellen Steinstufen, die schwarzen Fensterbretter, das schwarz gestrichene Eisentor, das in den Keller hinunterführte, der Balkon vor Zimmer 4, 8 und 10. Die Häuser waren riesig, so hoch, dass man im obersten Stockwerk die Baumwipfel unter sich im Wind schwanken sehen konnte, wenn man aus dem Fenster sah.
Ich blickte an der Fassade empor. Ganz oben im sechsten Stock unterhalb des Fensters befand sich ein Vorsprung, der über sämtliche Häuser entlang der Straße verlief und auf dem sich Tauben regelmäßig niederließen, um ihre Notdurft zu verrichten. Er war etwa sechzig Zentimeter breit und leicht abschüssig. Sarah Martin hatte sich einmal dazu hinreißen lassen, ein Rad darauf zu schlagen, was sie mit der Präzision einer Zirkusartistin getan hatte. Und sie hatte sogar noch einen draufgesetzt, indem sie einen Stuhl herausgeholt und so getan hatte, als lese sie ein Buch. Ich hatte ihren Sinn für Humor damals sehr bewundert. Wir alle hatten uns halb tot gelacht. Aus heutiger Sicht jedoch konnte ich nur von Glück sagen, dass sie nicht in die Tiefe gestürzt war. Was mochte aus den Sarah Martins auf dieser Welt geworden sein? Ich hoffte, sie hatte das Ganze überlebt, und wünschte ihr nur das Beste, wo auch immer sie sein mochte.
Lange Zeit stand ich vor dem adretten Hotel und sog tief den Atem ein. Meiner Ansicht nach sind Häuser lebende Wesen, und jeder weiß, dass Wände Ohren haben, ebenso wie Augen und Nasen. Sie nehmen alles in sich auf, alles, was passiert. Jede einzelne Farbschicht kann eine Geschichte erzählen, jede sich ablösende Tapetenbahn hat die Unwägbarkeiten des menschlichen Lebens gesehen, gerochen und gehört. Und dieses Gebäude dort auf der anderen Straßenseite, das Haus mit der Nummer 50, war Zeuge meiner gesamten Kindheit gewesen. Dieses Haus allein kannte die Wahrheit. Diese Ziegelsteine und Mörtelklumpen verwahrten irgendwo in ihrem Innern all meine intimsten Geheimnisse, meine Glücksmomente, mein Leid, meine Siege, meine Niederlagen, mein Lachen und mein Lecken. Diese Stufen hatten meine widerstrebenden Schritte verspürt. Und auch die Türen im Innern erzählten meine Geschichte – ich hatte sie geöffnet, zugeschlagen, sie umklammert, um sie herumgelinst, mich gegen sie gelehnt, nach ihnen getreten, sie abgeleckt und bittere Tränen vor ihnen vergossen. Wie könnten sie nicht die Spuren meiner Existenz in sich tragen? Diesem Gebäude gehörte ein Teil von mir. Und aus diesem Grund empfand ich eine liebevolle Verbundenheit mit ihm. Ihm konnte ich keinen Vorwurf machen. Ob es sich wohl an mich erinnerte?
Ich sah eine Frau aus dem Haus mit der Nummer 49 kommen, bei der es sich eindeutig um eine Angehörige aus der Irrenanstalt handelte: Sie hatte ihr Haar zu einem tief sitzenden, losen Knoten im Nacken frisiert und trug ein modernes, provokantes Kleid, das lediglich bis zur Mitte ihrer Waden reichte. Ja, sie gehörte eindeutig dazu. Offenbar kauften sie inzwischen die ganze Straße auf. Irgendwo dort drüben lebte meine Mutter. Im Haus mit der Nummer 50? Oder der 51?
Als Nächstes kamen Kinder aus dem Haus, bei deren Anblick mir das Herz bis zum Halse schlug. Zu meiner Verblüffung kamen sie herausgelaufen, noch immer in diesen grauenhaften Uniformen, doch sie sprangen und hüpften und lachten und plapperten wie ganz normale Schulkinder. Wir hingegen hatten das Schulgebäude stets in stoischem Schweigen
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