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So sollst du schweigen: Roman (German Edition)

So sollst du schweigen: Roman (German Edition)

Titel: So sollst du schweigen: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clara Salaman
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einen Dolch ins Herz gerammt. Es war grauenhaft, jemanden zu lieben und ihn gleichzeitig zu hassen. Ich sah es an seinen Augen. Er blickte zum Himmel hinauf. Die Tage waren kürzer geworden. Es dämmerte bereits.
    »Ich bitte dich um nichts, Joe«, fuhr ich fort, »sondern sage dir nur, dass du mir fehlst.«
    Er biss sich auf die Lippe und nickte widerstrebend.
    »Komm mir ja nicht blöd, Lorrie.«
    »Tja, da hätten wir es ja mal wieder. Bis dann.« Ich machte auf dem Absatz kehrt. Ich hatte die Nase voll. Wie konnte er es wagen, so etwas zu sagen? Im Augenblick stand etwas anderes im Vordergrund; ein Leben, das ein klein wenig dringlicher war, falls ihm das noch nicht aufgefallen war. Außerdem war schließlich ich die Gelackmeierte von uns beiden.
    »Komm, Tilly!«, rief ich und schob mich an ihm vorbei. Sekunden später schossen mir die Tränen in die Augen.
    »Warte!«
    »Was denn noch?« Verärgert wischte ich mir die Tränen ab. Wieso sollte er das Monopol auf das Unglücklichsein halten?
    »Alles Gute zum Geburtstag!«, sagte er.
    »Ach ja. Danke.«
    Bei diesen Worten kamen mir erneut die Tränen. Herrgott, diese Hormone brachten einen wirklich durcheinander.
    »Danke«, erwiderte ich. Und ich war ihm tatsächlich dankbar. Ich hatte den Tag bisher allein verbracht. Meine Mutter hatte eine Karte geschickt – noch nicht einmal eine mit einem religiösen Motiv, sondern mit einem hübschen, unverfänglichen Blumenstrauß in leuchtenden Farben anstelle der gedämpften Töne, wie es sonst in der Organisation üblich war. Sie hatte sich bestimmt lange Gedanken darüber gemacht, wofür ich ihr dankbar war.
    »Triffst du dich noch mit ihm?«, fragte er.
    »Mit wem?« Seit der Begegnung im Café hatte ich Steinberg nicht mehr gesehen. »Oh. Nein. Nein, nein.«
    Joe bückte sich und streichelte Tillys Kopf.
    »Joe, wenn du mir das, was ich getan habe, für den Rest meines Lebens vorhalten willst, dann tu das. Allerdings ist es gerade kein sehr günstiger Zeitpunkt, mir ein schlechtes Gewissen zu machen.« Ich spürte, wie sich meine Züge erneut verzerrten.
    Er nickte. »Ich rufe dich demnächst an. Vielleicht gehen wir ja etwas trinken.«
    »Warte lieber nicht zu lange damit, denn nach der Geburt wird es bestimmt ziemlich hektisch werden.«
    Und genau das tat er auch. Er lud mich auf einen spontanen Geburtstagsdrink nach Portobello ein. Tilly nahmen wir mit. Ich blieb neben einem Wagen stehen, um im Außenspiegel etwas Lippenstift aufzulegen, und es fühlte sich beinahe an wie früher – nur dass er mich hasste und ich dick wie ein Nilpferd war, weil ich höchstwahrscheinlich das Baby eines anderen Mannes austrug. Immer wieder musste ich stehen bleiben, um Atem zu schöpfen.
    Er bot mir seinen Arm an. Es fühlte sich angenehm an, als Schwangere am Arm eines Mannes die Straße entlangzugehen.
    Wir gingen in die Bar, in der er um meine Hand angehalten hatte, wenn auch nicht mit Absicht. Ich versuchte, ihn in eine andere Richtung zu ziehen, doch gerade als wir daran vorbeikamen, trat der Besitzer heraus. »Wow!«, sagte er. »Euch habe ich ja eine ganze Weile nicht mehr hier gesehen.« Sein Blick fiel auf meinen Bauch. »Herzlichen Glückwunsch«, fügte er hinzu, was der Situation nicht gerade zuträglich war.
    »Joe?«, sagte ich, während ich mich hinsetzte. Vor mir stand ein Glas Sauvignon, er hatte sich ein Bier bestellt. »Ich weiß, dass es etwas spät ist, aber ich möchte dir etwas erzählen. Nein, nicht nur etwas, sondern alles. Nur damit du vielleicht alles ein wenig besser verstehen kannst und mich nicht allzu sehr hasst.«
    Er musterte mich argwöhnisch. »Was denn? Was willst du mir erzählen?«
    »Hör einfach zu.«
    Eigentlich kann ich diese Marotte, um jeden Preis die Wahrheit sagen zu müssen, nicht ausstehen. Ich hasse es, mir das endlose Gerede dieser grässlichen Frauen in den Reality-Sendungen im Fernsehen ansehen zu müssen: »Ich bin, wer ich bin. Und ich sage es, wie es ist. So bin ich nun mal! Bei mir gibt es keine Geheimnisse. Ich sage es dir mitten ins Gesicht!« Tja, ich will aber nicht hören, wie die Dinge eurer Meinung nach sind, also, reißt euch zusammen, ihr dämlichen Schnepfen. Die Zivilisation hat sich weiterentwickelt.
    Also erzählte ich Joe so ziemlich alles – natürlich unterschlug ich gewisse Intimitäten im Hinblick auf Steinberg. Aber ich erzählte ihm alles über die Organisation, über Miss Fowler, über meine Eltern, den Bauarbeiter, über die U-Bahnstation Embankment,

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