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So sollst du schweigen: Roman (German Edition)

So sollst du schweigen: Roman (German Edition)

Titel: So sollst du schweigen: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clara Salaman
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mehr genau an ihren Namen – Annie? Annette? Oder so ähnlich. Jedenfalls habe ich ihr eine Menge zu verdanken. Sie hatte eine Tochter in meinem Alter, die in ihrem Pass eingetragen war, deshalb konnte ich problemlos einreisen. Es war ein Kinderspiel.
    »Und wohin bist du gegangen?«
    Es klang gekränkt, als nehme sie mir übel, dass ich nicht zu ihr gekommen war. Ich seufzte.
    »Bitte, Carry! Bitte, sag es mir!« Sie rückte ein Stück näher und sah mich fragend an.
    »Am Anfang habe ich bei einem Freund von Albert in Norwich gewohnt. Marc. Er war Sozialarbeiter. Nach einer Weile bin ich ausgezogen und habe mir einen Job gesucht. Drei Jahre später bin ich dann nach London gekommen, um meine Ausbildung zu beginnen.«
    Sie sah mich verwirrt an. Ihr Kopf wackelte ein wenig, und sie blinzelte ununterbrochen.
    »Aber wie hast du Arbeit gefunden? Du warst doch gar nicht gemeldet …«
    »Noch etwas Tee, Sherlock?«, fragte ich, stand auf und streckte die Hand nach ihrer Tasse aus. Es fiel ihr sichtlich schwer, all das zu verarbeiten.
    »Mum«, sagte ich und nahm meine Geburtsurkunde. »Du ahnst nicht, wie einfach es ist, sich durchzumogeln. Vor allem als Kind. Kinder kommen auch mit Mord durch.«
    Ich hielt inne. »Zumindest beinahe«, fügte ich hinzu und sah ihr kurz in die Augen, bevor ich in die Küche ging, um noch Tee zu machen. Sie folgte mir. Gemeinsam sahen wir zu, wie das Wasser im Kessel zu kochen begann.
    »Wirst du mir verzeihen, Carry?«, flüsterte sie.
    Was sollte ich dazu sagen? Sie war ein Lemming. Mein Vater war ein Lemming gewesen. Was soll ein Lemming schon tun, außer ein Lemming zu sein?
    »Ja«, antwortete ich und wandte mich ihr zu. »Das werde ich.«
    Ihre Augen schienen aufzuleuchten. Sie strahlte beinahe. »Danke. Ich hätte nicht auf sie hören dürfen.«
    »Nein, das hättest du nicht tun sollen.«
    »Ich hätte auf meine eigene innere Stimme hören müssen. Vielleicht hätte ich dann nicht auch noch mein zweites Kind verloren.« Ich empfand Mitleid mit ihr. Aufrichtiges Mitleid.
    »Das stimmt. Schäm dich, Mutter. Schäm dich.«
    Sie lächelte. Und ich erwiderte das Lächeln. Das Lächeln zweier Menschen, die wussten, wovon sie redeten.
    Wären wir nicht die, die wir waren, hätte ich ihr vielleicht den Arm um die Schultern gelegt. Doch für uns genügte es, dass ich allein das Bedürfnis danach verspürte.
    Es war mein neununddreißigster Geburtstag, und ich war kugelrund. So rund, dass ich jede Sekunde zu platzen drohte. Ich war bereits eine Woche überfällig. Noch drei Tage, dann würden die Ärzte die Geburt einleiten. Ich danke Mutter Natur, die es geschafft hatte, mich umzuprogrammieren und den Wunsch in mir hervorzurufen, gebären zu wollen und dieses Ding in meinem Leib endlich zur Welt zu bringen.
    Obwohl ich den Umfang eines Fasses angenommen hatte, weigerte ich mich noch immer standhaft, zur Kenntnis zu nehmen, dass ich ein Baby bekam. Dass dieser Bauch nichts anderes als ein Kind war. Ich hatte mit aller Macht versucht, mich mit diesem Thema auseinanderzusetzen. Ich hatte mich beim Schwangerschaftsyoga in einer Kirche am Ende der Ladbroke Grove auf dem Boden herumgewälzt. Allerdings hatte ich den Kurs wechseln müssen, weil die biegsame kleine Lehrerin am Ende der Stunden im Schneidersitz auf ihrer Matte gesessen, die Hände mit den Handflächen nach oben auf die Oberschenkel gelegt und mit aufgesetzt spirituell flatternden Lidern Sanskrit-Mantras intoniert hatte, als wäre es so wahnsinnig hip. Ein, zwei pseudo-hippe werdende Mütter hatten eingestimmt, beinahe so, als wäre es ein Wettbewerb. Ich hatte mich nur angewidert abwenden können.
    Am Ende meines neuen Kurses saßen die Teilnehmerinnen bei Kamillentee beisammen und rätselten, wen es als Nächste treffen würde. Meistens kam in der darauffolgenden Woche irgendeine von ihnen mit einem merkwürdigen kleinen Bündel vorbei und erzählte wundersame Geschichten. Wir alle schwärmten in den höchsten Tönen, wie wunderschön das Baby sei und wie sehr die junge Mutter strahle, aber wenn ich ehrlich war, fand ich, dass die Mütter grauenhaft aussahen und die Babys hässlich waren; winzige, behaarte, blinzelnde Maulwürfe. Sie machten mir Angst.
    All diese Mütter hatten einen Mann zu Hause. Ich sah es an ihren mitleidigen Mienen, mit denen sie mich ansahen, und daran, dass die Gespräche ab und zu abrupt verstummten, wenn ich dazukam. Dass ich noch nicht einmal wusste, wer der Vater war, hatte ich geflissentlich

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