So sollst du schweigen: Roman (German Edition)
besonders gut. Jedenfalls saß ich an diesem Tag vor dem Fernseher – einer der Vorteile an der Irrenanstalt …«
Ich konnte mir diese kleinen Seitenhiebe nicht verkneifen, doch meine Mutter ging nicht darauf ein, sondern streichelte unbeirrt Tilly weiter.
»Ich sah ihn also dort am Fenster stehen und auf die Auffahrt hinausblicken. Im ersten Moment dachte ich, er weint, weil ich so daran gewöhnt war, Leute weinen zu sehen, aber dann merkte ich, dass er lachte. Er tupfte sich die Augen mit einem Taschentuch ab und ging ständig auf und ab, um sich zu beruhigen, aber wann immer er ans Fenster kam, brach er wieder in Gelächter aus.«
Es war eher ein Glucksen als ein schallendes Gelächter gewesen. Noch heute hatte ich es im Ohr.
»Ich brauchte dringend ein bisschen Spaß. Denn davon gab es nicht allzu viel in dieser Anstalt, das kann ich dir versichern. Also stand ich auf und ging zu ihm hinüber, um herauszufinden, worüber er lachte. Aber da war nichts. Nur ein riesiger Schwerlaster stand in der Auffahrt. Albert nickte mir zu und versuchte immer noch, sich das Lachen zu verbeißen. Meine Gegenwart schien ihn sogar noch mehr zu reizen. Ich fragte ihn, was denn so lustig sei, woraufhin er auf den Laster zeigte und ›Jordi, Jordi‹ sagte.«
Noch heute sah ich Albert dort stehen, als wäre es gestern gewesen; seine stämmige Gestalt, die von Gelächter geschüttelt wurde, während ihm die Tränen über die Wangen liefen und er seine kleinen dicken Hände in die Seiten stemmte, als hätte er Angst, er platze gleich.
»Er merkte, dass ich keine Ahnung hatte, worüber er lachte, also drehte er mich an den Schultern um und zeigte auf das Münztelefon in der Ecke des Tagesraums. ›Jordi‹, sagte er noch einmal und zeigte wieder auf den Laster. Mein Gehirn, das nicht mehr so ganz funktioniert wie gewöhnlich, konnte den Zusammenhang nicht gleich herstellen, aber irgendwann fiel mir die Aufschrift auf dem Laster auf. UHU, stand da.«
Meine Mutter verstand den Witz nicht.
»Hat er gern gebastelt?«
»Nein, Mum. Jordi war Klebstoffschnüffler und hatte zwanzig Tonnen Uhu in die Irrenanstalt bestellt.«
Meine Mutter brach in schallendes Gelächter aus. Wir saßen beide da und lachten.
Albert und ich waren an der Wand entlang zu Boden gesunken, weil uns unsere Beine vor Lachen nicht mehr getragen hatten. Wann immer wir versuchten, wieder aufzustehen, brachen wir erneut zusammen. Wir malten uns aus, wie der Lasterfahrer vor dem Empfangsschalter stand und versuchte, jemanden zu finden, der den Lieferschein abzeichnete, nur um feststellen zu müssen, dass er inmitten von Irren gelandet war.
Das war der Wendepunkt für mich gewesen. An diesem Tag hatte ich begriffen, dass es aufwärts gehen könnte. Und Albert hatte gewusst, dass er mich wieder auf die Beine kriegen würde.
Mir fiel auf, dass meine Mutter nicht mehr lachte. Sie weinte. Nicht laut schluchzend, sondern mit verzerrtem Gesicht, während sie sich rhythmisch vor und zurück wiegte. Ich rutschte auf dem Sofa zurück. Es war in Ordnung.
Während sie schluchzte, blickte ich aus dem Fenster.
Oh, Albert. Oh, mein Retter. Er hatte gewusst, dass ich log. Dass Lorrie Fischer nicht mein richtiger Name war. Es existierte keine Vermisstenmeldung auf den Namen »Lorrie Fischer«. Aber mir war klar, dass es auch keine gab, die auf »Caroline Stern« lautete. Albert wusste nicht, weshalb ich log, bedrängte mich jedoch nie, dass ich ihm den Grund verriet. Einmal legte er sogar den Arm um mich und sagte: »Du behältst alle deine Geheimnisse für dich, ma chérie .« Ich glaube, ihm war klar, dass sie alles waren, was ich hatte.
»Weshalb bist du nach England zurückgekommen, Carry?«, fragte meine Mutter kleinlaut und tupfte sich die Nase mit dem zerknüllten Taschentuch trocken.
Sie sah so verloren aus, dass ich es ihr erzählte.
»Ich war vierzehn, und, ob du es glaubst oder nicht, ich hatte Heimweh. Nicht nach dir und Daddy, übrigens – euch beide hatte ich längst aufgegeben. Ich vermisste England. Ich vermisste London. Die U-Bahn. Ich vermisste den Humor. Selbst Scherze zu machen und welche zu hören. Aber ich konnte nicht riskieren, gleich nach London zurückzukehren.«
Albert hatte versprochen, mir zu helfen. Und das hatte er auch getan. Natürlich auf nicht ganz legalem Wege – er war kein Mann, der sich kategorisch an die Regeln hielt. Er überredete eine Freundin von ihm aus England, herzukommen und mich abzuholen. Ich erinnere mich nicht einmal
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