So sollst du schweigen: Roman (German Edition)
unterschlagen.
Auch ich hatte großes Mitleid mit mir. Regelmäßig durchlebte ich Augenblicke blanker Panik, in denen ich mich fragte, was die Zukunft bringen mochte. Ich heulte in der Badewanne, wenn ich allein nicht mehr herauskam. Ich heulte im Supermarkt, wenn mein Einkaufswagen nicht gehorchen wollte. Ich heulte in der Schlange an der Bushaltestelle, als ein Mädchen mich anschnauzte, ich solle mich gefälligst hinten anstellen.
Schon jetzt konnte ich nicht mehr richtig schlafen und war pausenlos außer Atem. Ich konnte keine Treppe mehr hinaufgehen, erreichte die oberen Regale nicht länger. Ich war nutzlos. Und ich war felsenfest überzeugt, dass ich nicht zurechtkommen würde; schon gar nicht nach der Geburt, bei der mein Körper in Stücke gerissen werden würde. Wie hatte ich mich nur in diesen Schlamassel bringen können? Und noch nicht einmal zu wissen, wer der Vater meines Kindes war.
Ich watschelte den Weg am Kanal entlang, als Tilly die Kanadagänse bemerkte. Sie jagte sie den gesamten Kanal entlang und bellte wie von Sinnen in der irrigen Annahme, sie hielten irgendwann inne und ließen sich von ihr schnappen und fressen. Der teure Citronella-Behälter war längst Geschichte; dafür hatte Tilly gesorgt, als sie eines Tages ins Wasser gesprungen war, um eine Plastiktüte zu jagen. Außerdem hatte ich sowieso längst resigniert. Zum Glück waren die Leute etwas freundlicher, wenn sie sahen, dass man schwanger war. Man kam in den Genuss kleiner Aufmerksamkeiten, wurde angelächelt, bekam einen Platz angeboten und konnte sich über etwas mehr Nachsicht mit seinem wie verrückt bellenden Hund freuen.
Beim Anblick eines Radfahrers, der auf mich zukam, stieß ich einen heimlichen Seufzer aus.
»Tilly!«, rief ich, doch sie befand sich im vollen Gans-Modus und hörte nicht. Sie bemerkte den Radfahrer erst, als sie gewissermaßen neben ihm stand und ihn beinahe vom Sattel riss. Im ersten Moment glaubte ich, er sei gestürzt, doch er richtete das Fahrrad bereits wieder auf. Es war ein Schwarzer mit einem Kapuzenpulli.
Ich beobachtete, wie Tilly geradewegs in seine Arme sprang.
O Gott, es war Joe.
Einen erbärmlichen Moment lang überlegte ich, mich im Gebüsch zu verstecken, doch mir war klar, dass es sinnlos wäre. Ich würde meinen Bauch nie im Leben vor ihm verbergen können. Ich beobachtete die Veränderung auf seinen Zügen, als er auf mich zukam; ich konnte sogar den exakten Moment benennen, als bei ihm der Groschen fiel, denn er blieb abrupt stehen. An der stinkendsten Stelle des Kanals, wo die Obdachlosen ihr Wasser holten, standen wir einander gegenüber.
In den letzten sechs Monaten hatten wie ein paar Mal miteinander geredet – knappe Telefonate, in denen wir klärten, wo ich ihm den Schlüssel hinlegen sollte. Bezeichnenderweise hatte er seinen Hausschlüssel verloren und wollte seine restlichen Sachen abholen. Beim ersten Gespräch hatte ich noch versucht, ihn zu fragen, wie es ihm ging, hatte ihm jedoch außer einem kurz angebundenen »Gut« nichts entlocken können, also hatte ich mir beim nächsten Mal die Mühe gespart. Ich hatte dafür gesorgt, dass ich nicht zu Hause war, als er vorbeikam, weil ich nicht gewollt hatte, dass er von meiner Schwangerschaft erfuhr. Ich hatte abwarten wollen, bevor ich ihm ein weiteres Mal wehtat. Was allerdings nicht unbedingt der taktisch klügste Schritt gewesen war, wie ich nun beim Anblick seiner Miene feststellte.
»Hi«, sagte ich.
Die Kinnlade hing ihm buchstäblich bis zum Boden. Er starrte auf meinen Bauch.
»Frohe Weihnachten«, sagte ich.
Er sah mir ins Gesicht.
»Du bist schwanger.«
Ich liebäugelte mit einer sarkastischen Erwiderung, doch es gibt für alles einen angemessen Zeitpunkt und Ort.
»Stimmt.«
»Wann …«
»Na ja, es kommt jeden Tag. Eigentlich war der Geburtstermin schon vergangene Woche.«
Ich sah, wie er im Geiste nachrechnete.
»Und … wer … wer ist der Vater?«
»Äh …« Ich seufzte. »Entweder du oder er.«
Ich sah, wie er bei dem Wort »er« zusammenzuckte.
»Verstehe. Und hattest du vor, es mir irgendwann einmal zu sagen?«
»Ich wollte zuerst warten, welche Farbe herauskommt.« Ich konnte mir eine schnippische Antwort nicht verkneifen, wie immer, wenn es nicht besonders gut lief.
Er lächelte freudlos. »Du bist grausam, Lorrie.«
»Ich vermisse dich, Joe.«
Und das tat ich auch. Ich vermisste ihn. Sehr sogar. Und ihn jetzt zu sehen, machte es noch schlimmer.
Er sah aus, als hätte ich ihm
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