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So sollst du schweigen: Roman (German Edition)

So sollst du schweigen: Roman (German Edition)

Titel: So sollst du schweigen: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clara Salaman
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sie an, doch dann überfiel mich das schlechte Gewissen, und ich tätschelte liebevoll ihren braunen Kopf. Immerhin war es ihr großer Tag.
    Unlängst hatte ich ein kleines Experiment durchgeführt. Eine alte Papiertüte war auf den kleinen Pfad geweht worden, der zu unserer Haustür führte, und ich hatte sie absichtlich nicht entsorgt, um zu sehen, wann Joe sie entfernen würde. Dort lag sie nun seit dreieinhalb Wochen.
    »Lass mich fahren. Das lenkt mich von meinen Magenschmerzen ab«, sagte er und trat über die Tüte.
    Ich bückte mich, hob die Tüte auf und feuerte sie in den Mülleimer.
    Dann fuhren wir los. Tilly saß hinten und streckte nervös den Kopf zwischen den Sitzen hervor.
    Tilly war eine mittelgroße Mischlingshündin mit unbekannten Vorfahren, die wir aus dem Battersea-Dogs-Tierheim geholt hatten. Sie war zuvor bereits bei zwei anderen Familien gewesen, die sie jedoch wieder zurückgebracht hatten. Verständlicherweise. Sie war ein Fall für die Hundeklapse. Doch als ich ein Jahr zuvor in ihre neurotischen braunen Augen gesehen hatte, war mir klar gewesen, dass ich sie niemals zurückbringen würde. Obwohl sie mich weiß Gott auf die Probe gestellt hatte, da sie alles anbellte und jagte, was sich bewegte: Fahrradfahrer am Kanal, Pferde, Autos, Jogger, Vögel, fallende Blätter und durch die Luft treibende Pollen.
    Vor nicht allzu langer Zeit war ihr beim Spaziergang in den Wormwood Scrubs ein Jogger ins Auge gestochen. Er trug teure Klamotten, und im ersten Moment war mir nicht aufgefallen, dass er ein künstliches Bein hatte. Ein künstliches Bein, dessen Fuß in einem Sportschuh steckte. Es war das Aufregendste, was Tilly je gesehen hatte – ein Stöckchen, das laufen konnte.
    Sie rannte los, um mir das Stöckchen zu bringen, und zwei Sekunden später war sie in ein wüstes Gerangel mit dem Jogger verwickelt. Als ich dazukam, drehte sich der Mann im Kreis und versuchte vergeblich, sie abzuschütteln. Sie sah mich beinahe stolz an und schien sich mit einem Auge meiner Anerkennung versichern zu wollen, während sie das Bein mit den Zähnen gepackt hielt und mit ausgestrecktem Körper durch die Luft sauste wie ein tollkühner Trapezkünstler.
    »Schluss jetzt! Aus, Tilly!«, befahl ich mit meiner besten Alphatier-Stimme, doch sie ließ nicht locker.
    »Es tut mir leid!«, sagte ich zu dem Mann.
    »Das ist ja wohl das Mindeste!«, brüllte er mich an. »Bringen Sie Ihren verdammten Hund unter Kontrolle!«
    Ich sparte mir eine Antwort. Irgendwie kam es mir ein bisschen pervers vor, mit einem Bein joggen zu gehen. Ich meine, ist das Leben nicht schon hart genug?
    »Aus, du blödes Vieh!«, fuhr er Tilly an, doch der Fluch schien sie nur in der Überzeugung zu bestärken, dass der Stock rechtmäßig ihr gehörte.
    Ich redete beruhigend auf sie ein. Ich bellte Kommandos, baute mich vor ihr auf – nichts zeigte auch nur die geringste Wirkung. Sie wirbelte um das Bein herum, als würde sie um einen Maibaum tanzen, und legte einen bemerkenswerten Mangel an Respekt mir, dem Alphatier, gegenüber an den Tag.
    Wir mussten dringend etwas unternehmen. Tilly brauchte professionelle Hilfe.
    Ich sah auf die Karte in meinem Schoß. »Ausfahrt 3, im ersten Kreisverkehr die erste Abzweigung nach links, im zweiten die zweite Abzweigung nach links nehmen.«
    Auf der Autobahn war überraschend wenig los.
    »Ausfahrt 3«, sagte ich.
    »Ich hab’s kapiert, Lorrie«, gab Joe zurück. »Wie oft willst du es noch sagen?«
    »Meine Güte, deswegen müssen wir uns ja nicht gleich in die Haare kriegen«, witzelte ich.
    Eine tolle Bemerkung. Joe ist nämlich vollständig kahl. Insgeheim hoffte ich, er würde vielleicht mit einem Scherz kontern, auch wenn mir nicht nach Lachen zumute war. Das konnte er nämlich ganz besonders gut. Unsere Beziehung hing sozusagen am seidenen Humorfaden. Heute aber war ihm kein Scherz zu entlocken, da er ja mit einem Bein im Grab stand.
    »Was ist dein Problem, Lorrie?« Er warf mir einen Blick zu. »Warum bist du immer so aggressiv?«
    Tilly jaulte und versuchte, sich zwischen den Sitzen hindurchzudrängen. Ich schob sie zurück.
    Joe gab ein gequältes Stöhnen von sich und hielt sich den Magen.
    »Warum tun wir uns das überhaupt an?«
    »Was?«
    »Mit dem Hund zum Seelenklempner fahren!«
    Das Herz schlug mir bis zum Hals. Im ersten Moment hatte ich gedacht, er würde von unserer Beziehung sprechen.
    »Ach ja? Du hältst alternative Therapien also für Zeitverschwendung?«
    »Das habe ich

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