So sollst du schweigen: Roman (German Edition)
nicht gesagt.«
»Nein, aber gemeint.«
Wieder versuchte Tilly, zu uns nach vorn zu kommen, und leckte mit weit zurückgelegten Ohren nervös an meinem Arm.
»Du meine Güte, Lorrie. Sie ist bloß ein Hund.«
»He, da war es!«, rief ich, als wir an Ausfahrt 3 vorbeirasten. Ich warf einen Blick auf meine Uhr. Die Sitzung war nicht billig, und jetzt würden wir auch noch zu spät kommen.
Eine halbe Stunde später saßen wir im Sprechzimmer von Dr. Crawford, der selbst wie ein Hund aussah. Ein Riesenhund. Er hatte einen langen zottigen Bart und eine wilde braune Haarmähne. Er trug einen Anzug, der völlig zerknittert und mit Haaren übersät war. An seinem Revers klebte eine weiße Feder. Vielleicht therapierte er ja auch Vögel.
Er gestattete Tilly, ihm wild das Gesicht abzuschlecken, während er ihr die Ohren massierte. Wann immer man ihr den kleinen Finger reichte, wollte sie gleich die ganze Hand. Sie versuchte, ihm in die Arme zu springen – was gut war, da sie auf diese Weise ganz genau zeigte, dass sie nicht gehorchen wollte.
Und genau das war ja der Grund, weshalb wir Dr. Crawford aufgesucht hatten.
Ich sah mich um. Das Sprechzimmer war ganz auf Hundebehandlung ausgerichtet: sitzsackartige Kissen, Linoleumboden, mit Wasser gefüllte Näpfe. Als er uns einen Keks anbot, überraschte es mich beinahe, dass es kein knochenförmiges Gebäck war. Zuerst aber bekam Tilly ihr Leckerchen.
»Tja, Sie haben es ja selbst gesehen«, sagte ich entschuldigend. »Immer springt sie an einem hoch.«
»Ist doch toll!« Er wandte sich zu mir. Er hatte schräg stehende braune Augen und kurze dicke Wimpern – möglicherweise war er in einem früheren Leben selbst ein Hund gewesen. Oder eine Kuh. »Sie freut sich, dass Sie da sind.«
Er sah tief in Tillys Augen und gab ein paar Hundeflüsterer-Laute von sich, ehe er sich wieder uns zuwandte. Tilly schien sich endgültig wie zu Hause zu fühlen. Sie trottete durch den Raum, schnupperte hier und da und ließ sich – o Wunder über Wunder – zu seinen Füßen nieder.
»Darf ich Ihnen eine Frage stellen?«, fragte er. »Hatten Sie zufällig Streit auf der Fahrt hierher?«
Er schien ein ziemlich gutes Gespür zu haben.
Joe und ich wechselten einen Blick, als müssten wir uns erst abstimmen.
»Äh …«, sagte ich. »Ein bisschen.«
»Sie bekommt alles mit, verstehen Sie? Tilly ist eine sehr intelligente und sensible Hündin.«
Die Botschaft war unmissverständlich. Gestörte Beziehung – neurotischer Hund.
»Wie verhält sie sich Kindern gegenüber?«, fragte er. »Haben Sie Kinder?«
»Nein«, erwiderte Joe rasch, und ich meinte einen leisen Vorwurf aus seiner Stimme herauszuhören.
»Sie mag Kinder«, sagte ich. Da ich immer noch wütend auf Joe war, machte ich mir nicht die Mühe, erst seine Meinung abzuwarten.
»Tja, Tilly, das habe ich mir schon gedacht«, sagte Dr. Crawford. »Ja, du bist wirklich eine Süße! Hat sie schon mal jemanden gebissen?«
»Nicht dass ich wüsste.«
»Nur, wenn sie besonders nervtötend sind«, sagte Dr. Crawford mit fröhlicher Hundestimme. Sie bedankte sich mit einem Zungenkuss.
»Sie hat Angst, allein gelassen zu werden, sagten Sie?« Er warf einen Blick in seine Unterlagen. »Bringen Sie Tilly in einem Hundezwinger unter, wenn Sie in Urlaub fahren?«
»Nein«, erklärte Joe gereizt. »Lorrie fährt nie in Urlaub.«
»Wie auch«, gab ich spitz zurück. »Wie soll ich mit so einem Hund in Urlaub fahren?«
»Wer ist Tillys primäre Bezugsperson?«, fragte er, ohne darauf einzugehen.
»Ich«, sagten wir wie aus einem Munde.
»Was?«, fuhr ich Joe an. »Das bin ja wohl ich! Wer macht denn ihre Dose auf und geht mit ihr Gassi?«
»Ich genauso!«
Allmählich ging mir auf, dass wir ein gefundenes Fressen für jeden Therapeuten wären.
»Na schön, dann eben du«, räumte Joe ein. Am liebsten hätte ich ihn dafür umarmt. Was wir bereits seit Monaten nicht mehr getan hatten.
»Also gut«, sagte Dr. Crawford trocken. »Ich bedaure, dass ich Ihnen diese Fragen stellen muss, aber … Hmm, bekommt Tilly öfter mit, wie Sie sich aufregen?«
»Nein«, erwiderte ich. Zu schnell.
»Weinen Sie in ihrer Gegenwart?«
Er zückte seinen Federhalter und begann sich Notizen zu machen.
»Ich weine nie«, sagte ich. Er sah auf.
»Stimmt«, bestätigte Joe. »Ich habe Lorrie noch nie weinen sehen. Nicht ein einziges Mal, und immerhin kennen wir uns seit sieben Jahren.«
Er sagte es, als würde irgendetwas nicht mit mir
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