So sollst du schweigen: Roman (German Edition)
allerdings noch keinen Ton von sich gegeben.
Mit Magersucht kannte ich mich aus. Ich konnte den Protest nachvollziehen, der dahintersteckte, ebenso die Konsequenzen. Dass ich beim besten Willen nicht schwanger werden wollte, war mit hoher Wahrscheinlichkeit eine Spätfolge meiner eigenen Essstörungen. Ich brauchte keine Tests zu machen. Ich wusste es, und ich würde alles in meiner Macht Stehende tun, um Mädchen wie Gemma vor demselben Schicksal zu bewahren. Ich erkannte genau, welche Macht von ihrer Zerbrechlichkeit ausging. Halb bewunderte ich sie, auch wenn ich sie am liebsten geohrfeigt hätte. Letztlich aber wollte ich ihr nur helfen, endlich wieder ins Leben zurückzufinden.
Hatte ich in der Vergangenheit tatsächlich genauso ausgesehen? Die Jeans in Kindergröße schlotterten an ihren Schenkeln, ihre Finger wirkten wie Klauen, und ihre Wangenknochen stachen hervor wie geballte Fäuste.
Ich beobachtete, wie sie einen Schluck Wasser trank, wahrscheinlich um ihrem Vater zu zeigen, dass er sich keine Sorgen zu machen brauchte. Trotzdem wusste ich, dass sie sogar in diesem Moment Kalorien zählte.
»Setzen Sie sich doch zu uns, Michael«, bat ich, aber er rührte sich nicht vom Fleck. »Bitte. Um Gemmas willen.«
»Kommen Sie mir nicht auf die Tour«, gab er mürrisch zurück. Als Aggression maskierte Angst, ganz eindeutig. Er musterte mich misstrauisch, während er breitbeinig Platz nahm und einen Arm um den Stuhl seiner Tochter legte, als müsse er sie vor mir und ihrer Mutter beschützen.
Allmählich riss mir der Geduldsfaden. Ich hasste Männer wie ihn, ihre aufgeblasene Ignoranz, ihre Opfermentalität, ihre Was-kann-ich-denn-dafür-Haltung. Ich spürte, wie ich wütend würde. Das Blut stieg mir in die Wangen.
»Haben Sie sich schon mal vor Augen geführt, Michael, dass Sie unmittelbar verantwortlich für den mentalen und physischen Zustand Ihrer Tochter sind? Haben Sie schon mal in Betracht gezogen, über sich nachzudenken und Ihr Verhalten zu ändern?«
Keine Ahnung, welcher Teufel mich ritt. Bei der Arbeit hatte ich noch nie die Kontrolle über mich verloren, sondern kann mit Stolz behaupten, dass ich mich immer im Griff habe. Ich bin stolz auf meine Besonnenheit und auf meine Fähigkeit, den Klienten aus seinem Schneckenhaus zu locken. Eine der Grundregeln der Familienpsychotherapie besteht darin, niemandem Schuld zuzuweisen. Und gegen dieses Prinzip hatte ich soeben verstoßen.
War die Atmosphäre eben noch frostig gewesen, konnte man sie nun nur noch arktisch nennen. Selbst Lesley schien schockiert von meinem Ausbruch. Ich tastete nach dem Schalter für die Schreibtischlampe.
»Okay«, sagte ich und knipste die Lampe an. Es war so dämmrig, dass ich kaum etwas sehen konnte. Der Himmel draußen hatte sich vollständig zugezogen. Ich hustete und tat so, als würde ich etwas in ihrer Akte studieren. Dann wechselte ich den Tonfall.
»Ich würde Ihnen gern eine Frage stellen, Michael. Erinnern Sie sich noch, wann Sie Lesley kennengelernt haben?«
Schweigen. Alle drei starrten mich wortlos an.
»Erinnern Sie sich?«, fragte ich. »Oder nicht?«
Lesley stieß ein abfälliges Schnauben aus. Sie versuchte mir zu helfen, die Sitzung wieder in geregelte Bahnen zu lenken.
»Was denn?«, fuhr er sie an.
»Nichts! Habe ich irgendwas gesagt?« Sie warf mir einen Hilfe suchenden Blick zu, aber ich ignorierte sie. Gemma schwankte hin und her, als säße sie zwischen allen Stühlen. Was sie in Wahrheit ja auch tat.
»Michael«, fuhr ich ruhig fort. »Bitte versuchen Sie sich zu erinnern. Wie war das damals, als Sie und Lesley sich kennengelernt haben?«
Er rutschte auf seinem Stuhl hin und her. Mit halbem Ohr hörte ich zu, doch insgeheim stellte ich mir dieselbe Frage. Aber würde diese Frage meine Beziehung zu Joe retten können?
Ich erinnerte mich an den Tag, als wir uns kennengelernt hatten. Vor sieben Jahren, am 8. September. Das Gesundheitszentrum, in dem ich damals arbeitete, hatte ein gemeinsames Projekt mit dem lokalen Sportzentrum – wir organisierten Aktionstage, um Familien anzuregen, mehr Zeit miteinander zu verbringen. Der 8. September war ein Freitag, und eigentlich wollte ich nur noch nach Hause, um es mir mit einem Glas Wein vor dem Fernseher gemütlich zu machen, aber ich hatte noch ein paar Kleinigkeiten mit Steve zu besprechen, dem Mann, der die Zusammenarbeit von Sport- und Gesundheitszentrum organisierte. Ich trat gerade durch die Schwingtür, als mich ein hochgewachsener,
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