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So sollst du schweigen: Roman (German Edition)

So sollst du schweigen: Roman (German Edition)

Titel: So sollst du schweigen: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clara Salaman
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Miss Fowlers Arbeitszimmer, dann um das Treppengeländer herum, auf den roten Teppich, vorbei an den Spiegeln, an Zimmer 4 und Zimmer 5, eine weitere Treppe hinauf, wobei ich mein Tempo immer weiter beschleunigte. Ich rannte noch eine Treppe hinauf, bis ich im obersten Stockwerk des Hauses angelangt war, stürzte in den Raum und schlug die Tür hinter mir zu.
    Die Meditation war noch in vollem Gange. Alle saßen im Schneidersitz, die Kalligrafiebretter zugeklappt vor sich, die Handflächen nach oben gerichtet. Aller Augen richteten sich auf mich. Meine raschen Atemzüge waren das Einzige, was die Stille durchbrach. Miss Fowler war offenbar eingenickt, denn sie schreckte abrupt aus dem Schlaf, stand auf und schob mich hinaus auf den Flur – alles in einer einzigen flüssigen Bewegung.
    »Was ist los?«, wollte sie wissen. Allem Anschein nach war ihre Neugier, den Grund für meine Atemlosigkeit zu erfahren, größer als ihre Verärgerung darüber, dass ich mitten in die Meditation geplatzt war.
    Ich beugte mich über das schmiedeeiserne Geländer und warf einen Blick nach unten, um sicherzugehen, dass der Sikh mir nicht gefolgt war. Weit und breit war niemand zu sehen. In diesem Moment kam mir in den Sinn, dass es möglicherweise keine gute Idee war, Miss Fowler von meiner Begegnung mit ihm zu erzählen. Aber ich fürchtete mich zu sehr, wieder nach unten zu gehen.
    »Der Bauarbeiter, der Sikh … er hat mich angefasst«, stieß ich, noch immer atemlos, hervor.
    »Wie meinst du das … angefasst?«
    »Er hat … meine Brust angefasst.«
    Unter normalen Umständen gäbe es keinen Grund auf der Welt, das Wort »Brust« in Miss Fowlers Gegenwart in den Mund zu nehmen, doch ich sah keinen anderen Ausweg. Ihre Miene wurde starr vor Verlegenheit, und auf ihren Wangen erschienen rosarote Flecke.
    »Wo warst du?«, wollte sie wissen.
    »Auf der Toilette, vor dem Umkleideraum.«
    Ich machte keine Anstalten, weitere Erklärungen abzugeben, und merkwürdigerweise verlangte sie auch keine von mir.
    »Komm mit!«, befahl sie stattdessen. Als ich mich nicht vom Fleck rührte, packte sie mich am Handgelenk und zog mich die Treppe hinunter.
    Mein Herzschlag beschleunigte sich mit jedem Schritt. Der Korridor war leer. Sie zerrte mich in die Toilette. Auch hier war nichts von dem Sikh zu sehen. Sie öffnete die Tür zur Küche, wo einige Mütter am Tisch in der Mitte des Raums Brotteig kneteten. Sie hielten inne und sahen auf.
    Da war er. Im Vorratsraum, auf einer Trittleiter, und strich mit langsamen, gleichmäßigen Pinselbewegungen die Wand. Miss Fowler verstärkte ihren Griff und zog mich weiter.
    Sie trat in den Vorratsraum und schloss die Tür hinter sich. Der Sikh hielt inne, drehte sich um und sah zuerst sie an, dann mich. Seine Miene war vollkommen ausdruckslos, als hätte er mich noch nie im Leben gesehen.
    »Ja?«, fragte er, noch immer auf der Trittleiter stehend.
    »Entschuldigen Sie bitte, wenn ich störe«, sagte sie und hüstelte. »Aber Caroline hier sagt …« Miss Fowler unterbrach sich, »… sie sagt, Sie hätten auf der Toilette versucht, sie zu begrapschen.«
    »Wie bitte?«
    Sie ließ ein knappes, nervöses Lachen hören. »Caroline sagt, Sie hätten auf der Toilette versucht, sie zu begrapschen.«
    Er wich zurück und sah aus, als kränke ihn der Vorwurf zutiefst. Eilig stieg er von der Leiter und schüttelte den Kopf. »Oh, nein, nein!«, rief er. »Sagen Sie doch so etwas nicht, bitte! Ich habe eine Frau und drei Kinder.«
    Miss Fowler nickte, als hätte sie genau das aus seinem Mund hören wollen, und ließ mein Handgelenk los.
    »Bitte verzeihen Sie mir«, bat sie. »Ich muss mich entschuldigen. Caroline ist eine schreckliche Lügnerin.«
    Ungläubig starrte ich sie an. Eines war ich ganz bestimmt nicht – eine Lügnerin. Niedergeschlagen ließ ich mich aus dem Vorratsraum und die Treppe hinaufschieben. Ihr Zeigefinger bohrte sich zwischen meine Schulterblätter, als sie mich in ihr Arbeitszimmer stieß. Das Licht war aus, deshalb war es stockdunkel. Wie dumm von mir. Ich hätte wissen müssen, dass ich es ihr nicht erzählen durfte.
    Mit einer abrupten Bewegung schloss sie die Tür, lehnte sich mit dem Rücken dagegen und funkelte mich wütend an.
    »Du bist ein verabscheuungswürdiges Kind!« Sie spie die Worte förmlich aus.
    »Aber er lügt!«, rief ich und wich vor ihr zurück.
    »Du bist böse!«
    Sie trat um mich herum. Ich drehte mich mit ihr im Kreis.
    »Sieh dich nur an!«, wetterte sie weiter.

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