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So sollst du schweigen: Roman (German Edition)

So sollst du schweigen: Roman (German Edition)

Titel: So sollst du schweigen: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clara Salaman
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ich lieber ausgeschaltet, um so wenig Aufmerksamkeit wie möglich zu erregen, deshalb war es ziemlich düster – lediglich trübes Tageslicht drang durch das vergitterte Milchglasfenster herein. Eilig betrat ich die hinterste Kabine und legte den Riegel vor.
    Gerade als ich fertig war und herauskommen wollte, hörte ich die Tür aufgehen. Ganz leise klappte ich den Toilettendeckel herunter und stellte mich darauf, für den Fall, dass sich jemand bückte, mich an den Füßen erkannte und verpetzte. Ich kauerte mich hin.
    Es war ein Mann. Ich hörte ihn ins Urinal pinkeln. Die Toiletten wurden regelmäßig vertauscht. Vielleicht war ich ja zufällig auf dem Herrenklo gelandet; im letzten Halbjahr waren dies jedenfalls noch die Damentoiletten gewesen.
    Mein Herzschlag setzte aus, als plötzlich seine Stimme ertönte. »Hallo?«
    Mit angehaltenem Atem lauschte ich den lauter werdenden Schritten.
    »Hallo?«, sagte er noch einmal. Ich hatte diese Stimme noch nie gehört.
    Ich stellte mich auf die Zehenspitzen und linste über die Kabinentür. Es war der Bauarbeiter, ein Sikh, den ich bereits in der Küche gesehen hatte. Er trug weiße, von Farbklecksen übersäte Arbeitshosen und einen weißen Turban.
    Ich legte mir den Finger auf die Lippen. »Bitte, verraten Sie mich nicht«, flüsterte ich. »Ich verstecke mich hier.«
    Er nickte und lächelte. »Okay!«
    Doch statt zu verschwinden, sah er mich gespannt an, als befänden wir uns mitten in einem aufregenden Spiel. Mit gespielter Vorsicht schlich er sich in die Kabine nebenan, stellte sich auf die Toilette und spähte über die Trennwand zu mir herüber.
    »Vor wem verstecken wir uns denn?«
    Sein Atem roch nach Gewürzen.
    »Vor Miss Fowler«, antwortete ich, obwohl ich eigentlich lieber in die Umkleideräume zurückgegangen wäre.
    »Geh nicht«, sagte er, als hätte er meine Gedanken gelesen. »Wie heißt du?«
    »Caroline.«
    »So, so, Caroline. Du siehst sehr hübsch aus in deiner Uniform.«
    »Danke.« Dieser Mann musste verrückt geworden sein. Unsere Uniform war grässlich.
    »Was machst du immer so nach der Schule?«, fragte er, noch immer im Flüsterton. Ich wollte wirklich lieber gehen, fühlte mich aber verantwortlich dafür, dass wir hier standen. So wie wenn man jemanden zu sich nach Hause eingeladen hat, dann aber feststellt, dass der Besucher ziemlich lästig ist.
    »Nicht viel. Hausaufgaben, Abendessen und dann ins Bett.«
    »Gehst du nie weg? Am Wochenende?«
    »Manchmal ins Schwimmbad in der Park Road. Mit Megan.«
    »Megan? Welche ist das?«
    »Sie geht in meine Klasse. Sie ist sehr klein und hat ganz viele Sommersprossen.«
    »Oh. Verstehe«, sagte er. »Vielleicht hättet ihr, du und Megan, ja mal Lust, mit mir schwimmen zu gehen?«
    Seltsame Idee. Ich stellte mir vor, wie er mit uns im Schwimmbecken war, sämtliche Luft aus den Lungen entweichen und sich wie eine Wasserleiche auf den Grund sinken ließ; wie er einen Handstand machte und ans flache Beckenende lief oder jämmerlich ertrank, so wie in Der weiße Hai – nicht dass wir den Film jemals gesehen hätten, aber die U-Bahn war voller Poster gewesen, und allein beim Anblick hatte mich die blanke Furcht gepackt. Ich malte mir aus, wie er sich eine Badekappe über den Turban zog und im Schmetterlingsstil die Poolbahn durchpflügte. Ich fragte mich auch, ob es stimmte, dass Sikhs sich nie die Haare schnitten. Wenn ja, könnte er es offen hinter sich im Wasser treiben lassen, eine gesamte Bahnlänge entlang.
    Gerade als ich überlegte, was ich darauf antworten sollte, legte er seine Hand auf meine. Im ersten Moment dachte ich, es sei ein Versehen, und zog sie weg, doch er hielt sie fest. »Wir könnten uns doch nach der Schule mal treffen, nicht?«
    Das Ganze fühlte sich irgendwie falsch an. Dieser Mann war nicht Marcus.
    Er streckte den Arm aus und ließ seine Hand nach unten wandern, bis sie meine Brust berührte. »Du bist hinreißend, kleine Caroline!«, sagte er. In seinen Augen lag ein eigentümlich verträumter Ausdruck.
    Ich schob ihn von mir, sprang vom Toilettendeckel herunter und entriegelte die Tür, so schnell ich nur konnte.
    »Warte! Warte!«, rief er mir hinterher. »Caroline!« Ich hörte, wie er den Riegel seiner Kabinentür zurückschob.
    Ich war eine ausgezeichnete Läuferin und wurde häufig als Überbringerin von Botschaften eingesetzt, weil ich rennen konnte wie der Blitz. Ich flitzte also hinaus, den Korridor entlang und die Kellertreppe hinauf, um die Ecke, vorbei an

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