So sollst du schweigen: Roman (German Edition)
gleißend helle Funken wie Knallzucker in meinem Höschen zuckten und meinen Körper zu einem elektrisierten und unfassbar aufregenden Etwas werden ließen.
Ich bewegte keinen Muskel, sondern saß stocksteif da, als sich unsere Hände berührten, das Blut durch meine Venen schoss und überall Knallzucker explodierte; durch die beiden Morde auf der Bühne hindurch, bis zur zweiten Pause, als der Vorhang fiel und die kalte Saalbeleuchtung jäh den Zauber durchbrach und die Realität zurückkehren ließ.
Ich beobachtete Steinbergs Hände, als er klatschte, und fragte mich, ob er sich über das, was soeben zwischen uns geschehen war, überhaupt bewusst war. Ich hingegen fühlte mich leer, als wäre mir etwas Lebensnotwendiges weggenommen worden. Sorgsam darauf bedacht, auf Abstand zu bleiben, stand ich auf und verließ den Saal. Als wir nach der Pause zurückkehrten, stellte ich fest, dass Joanna, ein Mädchen mit breitem, käsigem, nichtssagendem Gesicht auf meinem Platz saß und mit Amy plauderte. Wortlos setzte ich mich ans andere Ende der Reihe und wartete darauf, welchen Berg Orestes zu bezwingen haben mochte.
Mit großer Sorgfalt stellte Miss Fowler zwei schwere Stühle links und rechts neben den Gasofen unter dem Engelsgemälde.
»Setz dich hin«, sagte sie und deutete auf den dem Schreibtisch zugewandten Stuhl.
Ich gehorchte. Der Vorfall in der Toilette lag etwa eine Woche zurück. Zwar hatte man mir erlaubt, wieder am Unterricht teilzunehmen, das Mittagessen musste ich jedoch nach wie vor allein in Zimmer 4 einnehmen.
Miss Fowler zündete den Gasofen an, erhob sich und musterte mich von oben bis unten. Ich trug meine Spielmontur und sah ihr an, dass sie meinen Anblick missbilligte: Es enthüllte eindeutig zu viel Bein, obwohl meine Knie bedeckt waren.
»Wieso sehen deine Blusen immer grau aus?«, wollte sie wissen.
Dieser Umstand war mir und auch meiner Mutter ein echtes Rätsel. So sehr sich Mum auch bemühte, all unsere weißen Sachen hatten einen Grauschleier. Sie wurden eben nie in der Waschmaschine gewaschen. Weil wir keine hatten. Alle anderen schienen strahlend weiße Socken, Hemden und Servietten zu besitzen, nur ich nicht. Dieser Umstand erwies sich nur ein einziges Mal als vorteilhaft. Beim Einführungsritual in die Meditation geht man zu einem alten, weisen Mann, der in einem schicken Haus irgendwo in London lebt. Dort sitzt man bei Kerzenlicht im Schneidersitz in einem kleinen Raum, wo er einem ein Mantra vorsagt, das man unter keinen Umständen anderen Menschen verraten darf – irgendwann kam heraus, dass wir alle dasselbe bekommen hatten. Er verstreut Reis und Blütenblätter, ehe er einen eine halbe Ewigkeit herumsitzen lässt, damit man meditiert. Ich probierte die Reiskörner, die zwar trocken und hart waren, aber ganz lecker schmeckten, und fand heraus, dass die Blüten tatsächlich echt waren. Wenn man das Haus des weisen Mannes betritt, muss man ihm ein in eine Serviette gewickeltes Stück Obst überreichen, und wenn man wieder geht, nimmt man die Serviette mit dem Obst von jemand anderem mit. Das Beste an meiner Initiation war, dass ich mit einer blütenweißen Serviette und einer großen Ananas sein Haus verließ. Allerdings fiel das wohl nur mir, dem Mitglied einer Familie mit grauer Wäsche, auf. Und irgendein armer Teufel bekam stattdessen eine Serviette mit Grauschleier und ein halb verschimmeltes Stück heimischen Obsts mit.
»Ich weiß es nicht«, antwortete ich.
Stirnrunzelnd trat Miss Fowler zu ihrem Schreibtisch, hob den Telefonhörer ab und drückte eine Taste, ohne den Blick von mir zu wenden.
»Ich will nicht gestört werden«, sagte sie und legte auf.
Sie trug ein langes, hochgeschlossenes marineblaues Kleid, dessen Rocksaum nass war. Es regnete immer noch. Durch das Fenster hinter ihrem Schreibtisch sah ich die Tropfen auf das Glasdach des Speisesaals prasseln.
Ich hatte nicht die leiseste Ahnung, weshalb sie mich zu sich gerufen hatte. Für mein Empfinden war der Tag bisher ohne Zwischenfälle verlaufen. Die Bekanntgabe der Prüfungsergebnisse stand bevor. In Schreiben, vedischer Mathematik und Griechisch erwartete ich gute Noten und wusste, dass sie sich ärgerte, weil sie mich in dieser Hinsicht nicht drankriegen konnte.
Ich beobachtete, wie sie einen Schlüsselbund von ihrem Schreibtisch nahm, den Schrank aufschloss und ein paar Bücher zum Regal hinübertrug: die Bhagavad Gita , die Upanishaden , das Book of Common Prayer , die Holy Mother und die
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