So sollst du schweigen: Roman (German Edition)
auf, dass es fast unerträglich heiß wird, lasse die Wanne bis zu meiner Taille volllaufen, lehne mich zurück und setze Beine und Oberkörper der kalten Luft aus. Ich spüre, wie der Wasserspiegel steigt und nach und nach meine Gänsehaut bedeckt. Meine Brüste und meine Knie bilden Inseln, während ich kleine Tsunamis über meinen Bauch spülen lasse. Das Wasser steigt weiter und weiter, bis ich vollends von der wunderbaren Hitze umgeben bin. Nach ein bisschen Unbehagen ist das Angenehme umso schöner.
Unsere Wanne war groß und tief. Ich tauchte so tief unter, dass das Wasser meine Ohren bedeckte und nur noch mein Gesicht herausragte. Das war meine Lieblingsposition; die, in der ich mich am geborgensten fühlte, das Geräusch des Wassers in den Ohren, während ein letztes Echo des Donners verklang, mit dem das Wasser aus den Hähnen geschossen war. Ich fühlte mich schwerelos, wie ein Astronaut im Weltraum.
Heute aber wollte sich das übliche Wohlgefühl nicht einstellen. Stattdessen fühlte sich der Frieden innerhalb kürzester Zeit unbehaglich an. Wie sollte ich es Joe beibringen? Ich setzte mich auf und leerte meinen Wein in einem Zug, während ich hörte, wie Tilly an der Tür kratzte.
Ich stieg aus der Wanne und ließ sie herein. Zärtlich leckte sie an meinen nassen Beinen, und ich ließ sie gewähren, bis ich das Gefühl hatte, dass es nicht mehr normal war.
Ich schlüpfte in meinen Bademantel und ging nach unten. Inzwischen war es dunkel geworden. Joe stand nach wie vor in der Küche. Es erstaunte mich stets aufs Neue, wie viel Mühe er sich beim Kochen machte.
Ich sehnte mich danach, ihn von hinten zu umarmen, meinen Kopf an seinen Rücken zu legen und ihm zu sagen, dass ich ihn liebte, doch stattdessen schenkte ich uns Weißwein nach und hockte mich neben ihn auf die Arbeitsplatte, während er Ingwer schnippelte. Ich leerte mein Glas und schenkte mir noch einmal nach.
»Oh, Joe«, seufzte ich.
»Was denn?«, fragte er, ohne sich zu mir umzuwenden. Er tat einfach so, als sei alles zwischen uns in bester Ordnung.
Ich starrte auf seinen glänzenden Hinterkopf, und plötzlich versagte mir die Stimme. Es tat mir unendlich leid, wie sehr ich ihn mit meiner Geheimniskrämerei und meinen Lügen zum Narren gehalten hatte. Ich schuldete ihm weiß Gott mehr als eine kalte Dusche. Hatte er nicht ein klein wenig Aufrichtigkeit verdient, nun, da wir am Ende des Wegs angekommen waren? Schuldete ich ihm nicht wenigstens ein Fünkchen Wahrheit?
Er wandte sich zu mir um.
»Was ist los?«, wiederholte er. In seinen Augen spiegelte sich Angst. Ich hielt seinem Blick stand, doch noch immer brachte ich kein Wort heraus. Langsam wandte er sich wieder dem Schneidebrett zu, fast erleichtert, wie ich fand.
In jedem Verlust steckt ein bisschen Freiheit, wenn man seine Angst erst einmal überwunden hat. Und nun, da das Ende unserer Beziehung so nahe war und ich bereits reichlich Sauvignon getrunken hatte, verspürte ich den unüberwindlichen Drang, endlich reinen Tisch zu machen. Und mit einem Mal brach es aus mir heraus.
»Meine Eltern sind nicht tot.«
Abrupt fuhr er herum. »Was?«
»Ich habe sie nur seit fünfundzwanzig Jahren nicht mehr gesehen.«
Als ich auf seine Hände sah, bemerkte ich, dass er sich in den Finger geschnitten hatte. Blut tropfte auf die gelben Ingwerknollen und breitete sich auf der Arbeitsplatte aus.
3
Dad weckte mich um halb sechs Uhr früh. Das Krachen, mit dem meine Zimmertür ins Schloss fiel, war widerwärtig.
»Zeit, aufzustehen!«, sagte er und zog die Vorhänge zurück, hinter denen mich die stockfinstere Nacht begrüßte. Ohne ein weiteres Wort machte er kehrt und ging wieder hinaus. Ich schlang die Bettdecke fester um mich, weigerte mich, den Tag willkommen zu heißen. Im Haus war es eiskalt. Atemwölkchen schwebten vor meinem Mund.
Ich musste mich zweimal waschen und anziehen – das erste Mal in meiner schlaftrunkenen Phantasie. Bereits am Vorabend legte ich meine Uniform in der richtigen Reihenfolge am Boden zurecht, um mich im Bett anziehen zu können. Schnell streckte ich die Hand unter der Decke hervor und schnappte meine formlose marineblaue Unterhose und die wollenen Strumpfhosen und streifte beides über. Dann kämpfte ich mich aus meinem Nachthemd und griff nach dem Unterhemd, der grauweißen Bluse mit den potthässlichen Puffärmeln und der albernen Fliege. Als Nächstes knöpfte ich die Manschetten zu. Mum hatte meine Uniform selbst genäht, allerdings saßen die
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