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So sollst du schweigen: Roman (German Edition)

So sollst du schweigen: Roman (German Edition)

Titel: So sollst du schweigen: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clara Salaman
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damit auch der einen Blick auf uns werfen konnte. Wenn wir gemeinsam unterwegs waren, störte sich niemand an den Blicken. Die Gruppe vermittelte ein Gefühl von Sicherheit, nur wenn man allein auf der Straße herumlief, war es unerträglich.
    In diesem Moment ertönten überall im Theater Glocken. Wir waren so aufgeregt, dass wir es kaum erwarten konnten, und folgten Mr   Steinberg ins Olivier, dem im Stil eines Amphitheaters angelegten Saal. Unsere Plätze befanden sich in der ersten Reihe. Ich durfte nicht neben Megan sitzen. Miss Fowler hatte Mr   Steinberg angewiesen, mich im Auge zu behalten – es grenzte an ein Wunder, dass sie mir überhaupt erlaubt hatte mitzukommen –, also setzte ich mich zwischen Amy und Mr   Steinberg.
    »Tja, Caroline«, sagte er in dieses typische Stimmengewirr hinein, das stets in den Minuten vor dem Beginn herrscht, wenn die Leute ihre Plätze einnehmen und die Lichter noch nicht erloschen sind, »in wenigen Stunden wirst du wissen, was mit Orestes geschieht.«
    Ich nickte eifrig. Im vergangenen Monat hatten wir Aischylos’ Text durchgenommen, doch Mr   Steinberg hatte uns das Ende mit Absicht vorenthalten. Als die Lichter ausgingen, wurde mir fast übel vor Aufregung. Mr   Steinberg und ich wechselten einen Blick, der mir verriet, dass es ihm ganz genauso ging.
    Ich war ein klein wenig enttäuscht, als das Stück begann, denn sämtliche Schauspieler trugen Masken. Dabei hätte ich so gern Gesichter, spritzende Speicheltröpfchen und all das gesehen. Wäre ich Schauspielerin, würde ich mich weigern, eine Maske zu tragen. Da könnte man ja gleich einen Roboter auf die Bühne stellen. Aber nach einer Weile gewöhnte ich mich daran. Und wenig später war es so, als wären die Masken gar nicht da.
    Ich hatte ein Fernglas mitgebracht und versuchte zu verfolgen, wer auf der Bühne mit wem sprach, was allerdings nahezu unmöglich war. Am schlimmsten war es, wenn alle im Chor rezitierten, was ziemlich häufig vorkam. Wäre ich Schauspielerin, würde ich nicht im Chor sprechen wollen, sondern immer nur allein.
    Irgendwann lehnte sich Mr   Steinberg herüber, um einen Blick durch mein Fernglas zu werfen. Es war, als wären wir durch das Band um meinen Hals miteinander verbunden. Er roch sauber, nach Seife, und ich konnte die Stelle erkennen, an der seine dunklen Bartstoppeln in die weiche Haut seiner Wangen übergingen. Ich fühlte mich wie Klytämnestra, wenn Aigisthos sie in seine Arme zog.
    Doch schon bald hatte ich mich vollständig in der Welt des Stücks verloren. Wie gebannt verfolgte ich das Geschehen, bis Apollo Orestes erklärte, es gäbe nichts dagegen einzuwenden, den Tod seines Vaters zu rächen, dann verlor ich allerdings irgendwie den Faden.
    »Ist das Pylades?«, flüsterte ich Mr   Steinberg zu und deutete auf ihn.
    Er beugte sich zu mir herüber, ohne den Blick von der Bühne zu wenden, während ich meine Frage wiederholte. Er nickte, wobei sich die Bühnenbeleuchtung auf seinen Brillengläsern spiegelte.
    Wenn man bei einem Stück weiß, was als Nächstes kommt, ist die Vorfreude beinahe unerträglich. Ich wusste, dass Orestes und Pylades zum Palast zurückkehren und seine Mutter und deren Liebhaber ermorden würden, und konnte meine Aufregung kaum bezähmen. Ich sah mich außerstande, still auf meinem Platz zu sitzen. Stattdessen zog ich die Beine hoch, schlug sie unter und umklammerte die Armlehnen meines Stuhls.
    Mr   Steinberg ging es offenbar genauso, denn wenige Sekunden später rutschte er ein Stück tiefer auf seinem Platz und streifte dabei versehentlich meine Hand. Augenblicklich verlagerte sich mein Interesse am Geschehen auf der Bühne auf das, was sich an meinen Fingerspitzen abspielte. Ich erstarrte, wie gebannt von seiner Berührung, unfähig, meine Hand wegzuziehen. Stattdessen fühlte es sich an, als konzentriere sich mein gesamtes Sein auf meine rechte Hand. Ich bemühte mich, ruhig und gleichmäßig zu atmen, doch die Hitze seines Körpers schien sich gleichsam auf mich zu übertragen. Sie schoss durch meinen Arm und meine Brust, bohrte sich tief in mein Innerstes und entzündete dort ein neues, ungekanntes Feuer, das mein Blut zum Kochen brachte und durch meine Venen pumpen ließ, bis ich fürchtete, vor Glück gleich ohnmächtig zu werden. Das Schlimmste und zugleich Tollste daran war, dass mir mein wie wild pochendes Herz aus der Brust hüpfte und geradewegs in meiner Sie-wissen-schon landete … Poch, poch, poch, so machte es, während

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