So sollst du schweigen: Roman (German Edition)
»Was soll das? Stehst du extra früher auf, um dir Locken in die Haare zu machen?«
Ich schüttelte den Kopf.
»Wieso hast du dann diese Löckchen hier?« Sie schnippte mit den Fingern gegen eine Strähne an meiner Schläfe.
»Meine Haare locken sich, wenn es regnet«, erklärte ich.
»Nein, tun sie nicht. Haare werden glatt, wenn es regnet. Du kommst nur aus einem einzigen Grund in die Schule – um mit den Lehrern zu flirten!«
Sie reckte das Kinn, ohne mich aus den Augen zu lassen.
»Stimmt das etwa nicht?« Selbstgefällig presste sie die Lippen zusammen. Wie es schien, hatte sie mir diese Abreibung schon lange verpassen wollen.
»Du, Caroline Stern, bist eine Schlampe.«
Sie sprach das Wort mit solchem Nachdruck aus, dass ich Mühe hatte, nicht in Tränen auszubrechen. Aber dazu würde ich es nicht kommen lassen. Allerdings wagte ich es nicht, auch nur ein Wort zu sagen.
»Ich habe genau gesehen, wie du dich benimmst, wenn Männer in der Nähe sind.«
Mit gerecktem Kinn starrte sie mich an. Es war beängstigend, diesen Hass zu spüren, die Verachtung, mit der sie mich musterte. Doch ich erwiderte sie mit derselben Inbrunst. Ich verabscheute diese Frau mit jeder Faser meines Herzens. Entschlossen reckte ich ebenfalls das Kinn.
Plötzlich schien sie eine Idee zu haben. Sie ging zu ihrem Schreibtisch, zog die Schlüssel aus der Tasche und schloss eine Tür auf. Mit einer Bibel in der Hand trat sie vor mich und ließ sie mir vor die Füße fallen.
»Schwöre auf die Bibel, dass du die Wahrheit sagst!«, befahl sie. Ihr Gesicht war noch immer hochrot vor Wut, und mir fiel auf, dass sich einige Strähnen aus ihrem Knoten gelöst hatten. »Du schwörst auf die Bibel, dass dieser Mann dich belästigt hat!«
Sie schien das Spektakel förmlich zu genießen. Ich ging auf die Knie und legte eine Hand auf die Bibel.
»Schwör es!«, zeterte sie.
»Ich schwöre auf die Bibel, dass dieser Mann mich belästigt hat.«
»Du bist eine verlogene Schlampe!«
Mit zusammengepressten Lippen trat sie erneut vor den Schrank und kehrte mit der Bhagavad Gita in der Hand zurück. Sie ging neben mir auf die Knie und legte sie auf die Bibel.
»Schwöre auf die Bhagavad Gita, dass du die Wahrheit sagst!«
»Ich schwöre auf die Bhagavad Gita.«
»Auf das Absolute!«, befahl sie und beugte sich gefährlich weit zu mir herüber.
»Ich schwöre auf das Absolute.«
»Schwöre bei Mr Wapinskis Leben!«, wisperte sie mit gottesfürchtiger Stimme.
Sie sah mir forschend in die Augen, zuerst ins eine, dann ins andere, als hoffe sie darauf, ihnen die Wahrheit entschlüpfen zu sehen.
»Ich schwöre bei Mr Wapinskis Leben, dass ich nicht lüge.«
Sie sah aus, als erschütterten sie meine Worte bis ins Mark. »Deine Seele, Caroline Stern, wird im Fegefeuer brennen«, erklärte sie schließlich.
Von außen erinnerte das National Theatre an einen wunderschönen Riesendampfer, und bestimmt war es drinnen auch genauso aufregend wie auf einem. Allerdings konnte ich das nicht mit Gewissheit sagen, weil ich noch nie auf einem Ozeanriesen gewesen war. Leute aus der Organisation verreisten nicht. Unsere Reisen fänden allesamt in unserem Innern statt, und mithilfe der Meditation könne ich überall hingelangen, hatte mein Vater auf meine Frage geantwortet, wieso wir nicht nach Frankreich in die Ferien fahren könnten. Blöde Antworten wie diese bekam ich ziemlich häufig aus seinem Mund zu hören.
Drinnen sahen wir massenhaft Leute, die irgendwelche Sachen kauften, an Tischen saßen und aßen und tranken. Auf den ersten Blick war nirgendwo ein Theatersaal zu sehen.
Es war uns nicht gestattet, in der Öffentlichkeit zu reden, was nicht weiter schwierig war, weil es ohnehin so viel zu sehen gab. Wir waren mit der U-Bahn bis Waterloo gefahren und dann unter den Bögen der Waterloo Bridge hindurchgegangen, vorbei an einer ganzen Horde von Männern und Frauen, die in Schlafsäcken herumlagen und uns ungeniert anstarrten. Drei von ihnen drückte Mr Steinberg ein paar Münzen in die Hand, so dass für den vierten nichts übrig war. »Das war’s, Leute«, erklärte er, woraufhin einer »Na, woher kommen wir denn?« fragte. »Aus den Staaten«, antwortete Mr Steinberg. Woraufhin der Typ meinte: »Du doch nicht, Kumpel, sondern die komischen Schlümpfe, die hinter dir herlaufen.«
Das lag nur an unseren albernen Uniformen mit den hässlichen lila Umhängen und den Strohhüten. Der Schlafsack-Mann weckte sogar seinen Freund auf,
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