So sollst du schweigen: Roman (German Edition)
Wut über die Wangen liefen. Ich hasste diese schwachköpfigen Erwachsenen, jeden Einzelnen von ihnen, die taten, was man ihnen auftrug, ohne jemals nach dem Warum zu fragen. An diesem Tag schwor ich mir, nie wieder Respekt vor dem Alter oder vor Autoritäten zu zeigen.
Wann immer ich es nicht länger ertrug, schloss ich die Augen und stellte mir vor, ich würde mich aus meinem Körper lösen und davonschweben, wie ein Drache, hinaus aufs Dach des Hauses, dem Himmel entgegen, fort aus dieser grässlichen Straße, über den Hyde Park hinweg, über London, immer höher, immer weiter, bis ins All, endlich frei von allem.
Eines Nachmittags – wieder einmal stand ich mit dem Gesicht zur heißen Wasserleitung vor Miss Fowlers Arbeitszimmer – hörte ich eine vertraute Stimme hinter mir.
»Caroline?«
Ich rührte mich nicht. »Caroline?« Ich drehte mich ein winziges Stückchen zur Seite. Es war Mr Steinberg, auf dessen hübschem Gesicht ein besorgter Ausdruck lag.
»Hey, Schatz«, sagte er mit seinem zärtlichen amerikanischen Akzent. »Weine nicht. Was ist denn los?«
Er hatte mich noch nie »Schatz« genannt. Allerdings hatte er mich auch noch nie weinen gesehen. So diskret, wie ich nur konnte, legte ich mir den Zeigefinger auf die Lippen und presste mein Gesicht gegen das heiße Rohr.
»Hey, Caroline!« Er klang aufrichtig besorgt – schließlich kannte er mich nur als fröhliches Mädchen – und legte mir eine Hand auf die Schulter. »Du bist doch sonst nicht so. Was ist passiert?«
»Sie glaubt, ich lüge!«, flüsterte ich, während ich mich hektisch umsah, ob Miss Fowler hinter der nächsten Ecke lauerte. »Dieser Bauarbeiter mit dem Turban … er hat mich angefasst … aber sie glaubt mir nicht.«
Mr Steinbergs Miene verriet mir, dass er sofort wusste, wovon ich sprach. Er war sprachlos. Ich schüttelte den Kopf. »Sie dürfen nicht mit mir sprechen. Niemand darf das. Sie wird mich umbringen.«
»Dieser Sikh? Unten in der Küche?«, fragte er, woraufhin ich eilig nickte.
»Ich glaube dir. Er hat in meiner Wohnung etwas repariert, und meine Freundin meinte, die Art, wie er sie ansah, hätte ihr gar nicht gefallen.«
Mein Herzschlag setzte aus. Aus zweierlei Gründen. Jemand glaubte mir. Und er hatte eine Freundin.
In diesem Moment registrierte ich den Rocksaum des selbst genähten Kleids von Miss Fowler, als sie hinter ihn trat. Übelkeit stieg in mir auf. »Nehmen Sie Ihre Hand weg«, hätte ich am liebsten gesagt. Und zugleich »Bitte, lassen Sie sie liegen.«
»Sagen Sie es ihr!«, flüsterte ich.
»Mr Steinberg!« Miss Fowler herrschte ihn an, als wäre er ein Schuljunge, und ich sah ihn sogar zusammenzucken. »Lassen Sie dieses Kind zufrieden!«
Er starrte sie mit offenem Mund an, als sie mich grob an den Schultern packte, in ihr Arbeitszimmer schubste und ihm die Tür vor der Nase zuschlug.
Am nächsten Tag versuchte Amy, Kontakt mit mir aufzunehmen, doch ich schwieg. Ich wollte mit niemandem mehr reden. Unter einem Vorwand kam sie in Miss Fowlers Arbeitszimmer und blies mir beim Hinausgehen einen Kuss zu. Doch ich wandte den Blick ab. Um ihretwillen. Stattdessen stellte ich mir vor, wie der Drache weiter und weiter zum Himmel emporstieg.
Miss Fowler wusste, dass sie gewonnen hatte. In ihrem Gang lag etwas Beschwingtes, und sie hatte auffallend gute Laune. Am fünften Tag erblickte ich mein Gesicht im glänzenden Messingtürknauf. Meine Augen waren schmale Schlitze, verquollen und gerötet vom Weinen. Ich ertrug es nicht länger.
»Ich hab’s getan«, sagte ich im Flüsterton zu der weißen Markierung an der Wand.
»Was?«, fragte Miss Fowler hinter ihrem Schreibtisch.
»Ich hab’s getan.«
»Lauter, bitte«, zwitscherte sie.
»Ich habe es getan. Ich habe angerufen.«
Ich starrte den Messingknauf an, in dem sich das Mariengemälde von Masaccio über dem Kaminsims spiegelte. Marias Miene verriet deutlich, dass sie von diesem alten Engel genug hatte. Hör endlich auf, schien sie zu sagen, lass mich in Ruhe, ich sage ja schon, was du hören willst. Die arme alte Maria war müde und hungrig, so sehr, dass sie halluzinierte. Sie hörte nicht auf das, was der Engel zu sagen hatte. Stattdessen dachte sie an Josef, das Gewicht seiner Hand auf ihrer Schulter und die Art und Weise, wie er mit diesem hinreißenden amerikanischen Akzent »Hey, Schatz« zu ihr sagte. Sie dachte daran, wie seine Freundlichkeit ihrer Welt neuen Glanz gegeben hatte. Wie sie sich danach gesehnt hatte,
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