So sollst du schweigen: Roman (German Edition)
dieses flaue Gefühl in der Magengegend, also trug ich mein neu erstandenes Käsebrett in die Küche und beschloss, mir einen Toast mit Käse zu machen. Was durchaus ein künstlerischer Akt ist.
Der Toast darf nur auf einer Seite gebräunt sein, die ungetoastete Seite wird dünn mit Butter bestrichen, dann folgt eine Schicht dünn geschnittener Tomaten, wobei sich die Ränder nicht überlappen dürfen, darauf kommt der Käse – zwingend ein in exakt gleich dicke Scheiben geschnittener Cheddar, der ebenfalls wie Puzzleteilchen ohne überlappende Kanten oder Lücken auf der Brotscheibe verteilt wird. Das Allerwichtigste dabei ist, dass der Toast bis zur Kruste mit Käse bedeckt sein muss. Anschließend wird das Kunstwerk gegrillt, bis der Käse zu schmelzen beginnt, aber nicht verschmort. Heute klappte es jedoch vorn und hinten nicht: Die Käsescheiben überlappten sich, außerdem schmolz er nicht anständig, und zu allem Übel hatte ich die dünne Schicht Relish unten drunter vergessen. Am Ende schlang ich den Toast gierig hinunter, ohne etwas davon zu schmecken, während ich blicklos auf die Ziegelmauer des Nachbarhauses starrte.
Meine Lügen waren zum Gerüst meines Lebens geworden. Bis jetzt hatte alles perfekt funktioniert, doch nun fühlte es sich mit einem Mal so wackelig an wie ein Kartenhaus. Eine winzige preisgegebene Wahrheit, und schon brach ich ein. Wieso hatte ich ihm die Wahrheit verraten? Was hatte den Ausschlag zu diesem Sinneswandel gegeben? Natürlich kannte ich die Antwort. Ich wusste genau, was und wann sich alles verändert hatte – sie war der Grund. Diese dicke Frau mit der Heugabel. Jener Bruchteil einer Sekunde, als ich Amy wiedererkannt hatte. Ich bekam sie nicht mehr aus dem Sinn; die Art, wie sie dagestanden hatte, mit ihrem kurz geschnittenen Haar und den großen blauen Augen mit all der Liebe darin, als sie mich gesehen hatte. Und dann ihre Bestürzung, als ich geleugnet hatte, sie zu kennen. Wie hatte ich ihr das antun können? Wie mochte sie sich in diesem Augenblick gefühlt haben?
»Verdammte Scheiße!«, schrie ich und schleuderte den Toast quer durch die Küche. »Verdammte Scheiße!«
Tilly kam hereingetrottet, sah mich vorwurfsvoll an und wedelte nervös mit dem Schwanz, als sei alles ihre Schuld. Na ja – wenn ich recht überlegte, war sie tatsächlich an allem schuld. Dieser durchgeknallte Köter.
»Los, komm, wir gehen raus!«
Mit Tilly an der Leine marschierte ich die Portobello Road bis Westbourne Grove hinunter, wo ich mich auf eine Bank neben dem Blumenstand setzte und der Verkäuferin zusah. Sie sah glücklich aus, diese glückliche Kuh. Richtig glücklich. Blumenverkäuferin, was für ein angenehmer Job, wenn man einmal von den kalten Fingern und dem Wetter absah. Dafür hatte man den ganzen Tag mit Menschen zu tun, die einem freudig ihr Geld in die Hand drückten. Allmählich wurde ich ein wenig ruhiger. Der würzig-süße Duft der Blumen stieg mir in die Nase. Soweit ich es beurteilen konnte, war die Durchschnittskundin eine Frau von Ende dreißig mit blondem Haar und hübschen Kleidern. Mit anderen Worten – ich.
Ein dunkelhaariges Mädchen mit todschicken Stiefeln entschied sich für einen wunderschönen Lilienstrauß. Ihre Stiefel waren genau das, wonach ich unwissentlich die ganze Zeit gesucht hatte: flacher Absatz, leicht bikermäßig mit einer Spur Kampflesbe. Meistens trug ich flache Schuhe, weil sie mir die Gewissheit gaben, jederzeit davonlaufen zu können. Eine Vorstellung, die ich mir sehr gut gefiel. Die Stiefelfrau bezahlte gerade die Blumen, als ihr eine Frau in Turnschuhen auf die Schulter tippte. Die Stiefelfrau drehte sich um, woraufhin die beiden vor Freude zu kreischen begannen und einander um den Hals fielen und dabei prompt die Blumen zerdrückten.
Genau in diesem Moment erkannte ich mein Problem klar und deutlich – ich war einsam. Schrecklich einsam. Ich vermisste Amy. Meine alten Klassenkameradinnen. Natürlich hatte ich Freundinnen, aber sie waren nicht wie sie; es waren keine Freundinnen, die einen wirklich verstanden.
Als ich wieder nach Hause kam, war es bereits fünf Uhr, aber Joe war immer noch nicht da. Tilly, mit frisch gebürstetem, glänzendem Fell, und ich legten uns in einer Art Umarmung auf das neue antike Sofa. Ich tat so, als würde ich fernsehen, doch meine Magenschmerzen hatten wieder angefangen, und ich konnte mich auf nichts konzentrieren.
Schließlich – es war fast so, als beobachtete ich jemand anderen –
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