So sollst du schweigen: Roman (German Edition)
– auf den Tisch legte. Einen beängstigenden Moment lang dachte ich, sie würde mir eine Privatstunde in Philosophie erteilen.
Sie verschloss den Schrank, legte die Schlüssel in eine Schublade und wandte sich wieder zu mir. Mit einem tiefen Seufzer ließ sie sich auf ihren Stuhl sinken, als mache sie sich darauf gefasst, dass wir einige Zeit dort sitzen würden, und faltete die Hände im Schoß.
Sie starrte mich an. Ich starrte zurück. Der Gasofen zischte und fauchte. Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Ich war mir keiner Schuld bewusst und sah deshalb keine Notwendigkeit, das Schweigen zu brechen. Wir saßen unangenehm nahe beisammen, was höchstwahrscheinlich ihre Absicht gewesen war; so nahe, dass mir der Geruch nach Dettol in die Nase stieg.
Miss Fowlers Alter war schwer zu schätzen. Deborah hatte sie einmal beim Mittagessen gefragt, woraufhin sie geantwortet hatte, sie sei siebzig. Niemand hatte mit der Wimper gezuckt, und kurz darauf hatte sie gemeint: »Das war übrigens ein Scherz.« Ich betrachtete sie eingehend. Ihre Augen waren klein, von einem nichtssagenden Blau und mit tiefen dunklen Ringen darunter. Irgendwann hatte ich ein reichlich beunruhigendes Gemälde mit einem Mann auf einer Brücke gesehen, der den Mund weit zum Schrei aufgerissen hatte. Sie sah ihm ziemlich ähnlich, fand ich. Ihre Nase war lang und schmal, ihr Teint fahl. Siebzig. Durchaus möglich.
Ich konnte nicht sagen, wie lange wir so dasaßen, spürte jedoch, wie ihr Unbehagen wuchs. Ihr Mund begann zu zucken. Irgendwann gab sie auf, erhob sich und starrte auf mich herunter. Ich spürte, dass sie beschlossen hatte, ihre Taktik zu ändern. Sie begann, ziellos im Raum auf und ab zu gehen, leicht wippend, wie eine schlechte Schauspielerin, die sich um einen unbeschwerten Gang bemühte.
»Möchtest du gern irgendwelche Sünden beichten?«
Ich verstand die Frage nicht.
»Und?«, drängte sie.
»Was?«
»Sünden! Los, raus damit!«
Ich hatte keine Ahnung, was ich darauf erwidern sollte.
»Oh, ich kann warten, Caroline Stern, ich kann warten.«
»Ich weiß nicht, was Sie meinen.« Ich hatte das ungute Gefühl, dass sie mir gegenüber im Vorteil war.
»Ich sagte, ich kann warten.«
Also warteten wir beide. Sie hatte meine Sturköpfigkeit unterschätzt. Schließlich stand sie wieder auf, trat an ihren Schreibtisch und zog einige Hausaufgabenhefte heran, doch ich sah ihr an, dass sie nicht bei der Sache war. Langsam erhob sie sich und starrte mich an. Es bestand kein Zweifel, dass sie innerlich kochte.
»Woher hast du diese widerwärtigen Ausdrücke?«
Was sollte ich sagen? Ich biss mir auf die Lippe.
»Woher? Hast du sie auf der Straße aufgeschnappt? Du widerst mich an.« Wie ein Tiger im Käfig drehte sie ihre Runden um ihren Schreibtisch, ohne mich aus den Augen zu lassen.
»Was soll ich denn getan haben?« Ich war nicht bereit, mich kampflos auffressen zu lassen.
»Oh, ja. Spiel nur die Unschuld vom Lande! Weißt du, was du bist, Caroline Stern? Du bist der sprichwörtliche schimmelige Apfel in der Kiste. Du bist bis ins Mark verdorben, wie Gift, das sich auf alles überträgt, was du in die Finger bekommst. Jeden, der in deine Nähe kommt, verdirbst du!«
Es war mir ein Gräuel, dass sie mich auf diese Weise drankriegte. Ich spürte bereits, wir mir die Tränen in die Augen stiegen. Und sie bemerkte es ebenfalls.
»Nein, das tue ich nicht«, widersprach ich, doch meine Entschlossenheit war ins Wanken geraten, was ihr nicht entgangen war.
»Doch, tust du.«
»Nein, tue ich nicht.«
»Doch, tust du.«
»Nein, tue ich nicht.« Diese verdammten Tränen.
»Gib es zu, Caroline!
»Was zugeben?«
»Du kommst damit nicht durch. Ich werde die Polizei einschalten, ich schwöre es. Sie werden dich finden und vor Gericht stellen, und dann kommst du ins Gefängnis!«
Was zum Teufel hatte ich verbrochen?
»Was habe ich denn angestellt?« Ich drängte meine Tränen zurück.
»Ja. Was hast du angestellt?«
Fieberhaft durchforstete ich mein Gehirn. Es gab da ein oder zwei Dinge, die infrage kamen. Sie setzte sich wieder, zog ihren Stuhl noch näher heran und musterte mich forschend.
»Gestehe!«
Ich starrte sie finster an.
»Ich kenne dich. Ich kenne dich!« Mittlerweile schrie sie. »Seit Jahren. Glaubst du ernsthaft, ich würde deine Stimme am Telefon nicht wiedererkennen? Seit zwei Monaten rufst du mich zweimal pro Woche an und sagst irgendwelche Obszönitäten in den Hörer! Ich habe mir die Daten notiert. Und
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