So sollst du schweigen: Roman (German Edition)
Hermetischen Schriften . Dabei fiel mir auf, dass der Reißverschluss ihres Kleides einige Zentimeter aufgegangen war und ein Stück weißer Haut entblößte – es würde ihr ganz und gar nicht gefallen, wenn sie das wüsste.
In ihrem Schrank herrschte akribische Ordnung: Gespitzte Bleistifte standen, nach Stärke sortiert, in diversen Gefäßen, drei Tintenfässer, zwei mit blauer, eines mit schwarzer, waren fein säuberlich arrangiert, daneben ein Glas mit Buntstiften und ein weiteres Gefäß mit Schreibfedern in verschiedenen Breiten. Sämtliche Regalbretter waren mit Schildchen versehen.
Auf einem kleinen Tablett zu ihrer Rechten sah ich ihren Vorrat an Kräutern; Plastiktüten mit Minze, Salbei, getrockneten Narzissenblättern oder was Dr. Fox ihr auch immer geraten hatte, gegen ihr Brustleiden zu trinken. Dr. Fox empfahl auch zwei Vollbäder pro Tag und Eiskompressen, was sie unter Garantie einhielt. Mr Wapinski, von uns auch liebevoll Whopper genannt, war ein glühender Fan von Dr. Fox, womit alle anderen automatisch ebenfalls von seinen Künsten überzeugt sein mussten. Megan meinte, Dr. Fox sei ein mieser Schleimer, der inmitten von Gartenzwergen in einem Plastikhaus in Kent lebte. Er zwang sie regelmäßig, sich umgestülpte Gläser überall auf die Haut zu pressen, um ihr Asthma zu bekämpfen. Ich hatte gerade erst das Wochenende bei ihr verbracht, weil Mum und Dad auf Exerzitien gewesen waren. Ihre Mum hatte uns gezwungen, Dr. Fox’ Brennnessel-Brot zu essen, woraufhin ihr Dad aufgestanden war und mit den Worten »Lieber Gott, Maureen, wenn der verdammte Wapinski gesagt hätte, wir sollen alle Kamelfleisch zum Abendessen essen, würdest du auch das machen, stimmt’s?« die Küche verlassen hatte. Wir anderen hatten schweigend weitergegessen, doch ich war fassungslos gewesen – ein Erwachsener, der den Whopper infrage stellte. Ich kann nicht sagen, wie sehr ich mir wünschte, bei Megan leben zu dürfen. Wie sehr ich ihren Vater dafür liebte, dass er diese Dinge sagte, das mit dem »Lieber Gott«, dem »Kamel« und »Wapinski«. Megan meinte, das liege daran, dass er Waliser sei.
Ich starrte Miss Fowlers Rücken an, wie sie mit den Schlüsseln herumhantierte, bis sie den richtigen gefunden hatte. Sie schloss eine längliche, flache Kassette auf und nahm einen Stapel Blätter heraus. Mir war auf der Stelle klar, was das war – der nächste spannende Teil der Schriften von Sri Chabaransha.
Ich stellte mir vor, wie er im Schneidersitz in einer kleinen Hütte in irgendeinem Dorf in Indien saß, mitten in einem Dschungel, in dem es vor wilden Tigern nur so wimmelte. Er hatte die Augen in Trance geschlossen, während er seine Weisheiten einem Helfer an seiner Seite diktierte, der hektisch jedes Wort aus seinem Mund festhielt. Kaum versiegte der Strom von Chabaranshas Perlen der Weisheit, sprang der Helfer auf, schnappte die Blätter und stürzte zum Flughafen, wo ihm die Wachleute die heiligen Papiere abnahmen, in eine Brieftasche steckten und höchstpersönlich im Flugzeug nach Heathrow transportierten. Dort wurden sie von bewaffneten Polizeibeamten in Empfang genommen, die die Brieftasche mit Handschellen an ihrem Körper sicherten, ehe sie mit der Piccadilly Line in Richtung South Kensington fuhren, wo sie die letzten paar hundert Meter bis zur Schule im Laufschritt zurücklegten und die Papiere Mr Wapinski überreichten. Ich malte mir aus, wie der Whopper sie ganz allein durchlas, sabbernd vor Bewunderung, bevor er sie an Miss Fowler und Mr Mercer weitergab, die sie unseren tauben Ohren zuführten.
Meine Eltern hatten ein Schwarz-Weiß-Foto von Sri Chabaransha über dem Bett hängen, so dass ich Gelegenheit gehabt hatte, ihn eingehend zu betrachten. Er war ein feister kleiner Mann mit langem Zottelhaar und einem großen Punkt auf der Stirn, der mit einer Art Windel im Schneidersitz auf dem Boden einer Hütte saß. Auf seinen Zügen lag ein trunkenes Lächeln, und seine Augen sahen in unterschiedliche Richtungen, als beobachte er eine ausgefeilte Flugschau. Doch es ging das Gerücht, er könne mittels Gedankenkraft seinen Körper vom Boden abheben und durch den Raum schweben lassen, wann immer er den Drang danach verspürte, was mein Interesse augenblicklich weckte.
Ich sah zu, wie Miss Fowler die Kassette wieder verschloss und die Blätter – mit einer für meinen Geschmack reichlich nachlässigen Geste, wenn man bedachte, mit welcher Umsicht sie sie eingeschlossen hatte
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