So sollst du schweigen: Roman (German Edition)
dass er seine Hand auf ihrer Schulter ließ, sie auf seine Arme hob und sie von hier wegbrachte. Fort von all dem.
4
Mittlerweile benahm ich mich äußerst merkwürdig. In einem Anfall uncharakteristischer Extravaganz hatte ich in einem der Antiquitätengeschäfte in der Goldborne Road ein seidenbespanntes Sofa aus dem 18. Jahrhundert aus Deutschland erstanden, das wie durch ein Wunder durch die Haustür passte. Joe war unterwegs bei einem Trainingstag, deshalb hatten der Antiquitätenhändler und ich das Ungetüm ins Wohnzimmer gewuchtet. Die folgende Stunde verbrachte ich damit, darauf zu sitzen und aus dem Fenster zu sehen, während Tilly in ihrem bescheidenen Körbchen kauerte und mir sehnsüchtige Blicke zuwarf.
Trotz allem, was ich meinen Patienten riet, hatte die Vermeidungstaktik lange Zeit ganz hervorragend bei mir funktioniert. Und dann hatte ich mit fünf Worten alles zerstört. »Meine Eltern sind nicht tot.« Seitdem waren Magenschmerzen und Übelkeit meine ständigen Begleiter. Die Symptome und Reaktionen, die ich an den Tag legte, waren derart offensichtlich, dass ich mich für eine Fallstudie im Therapiehandbuch für Kognitives Verhalten geeignet hätte – mit Fotos, wie ich mit zerzaustem Haar auf einem verdammten antiken Seidensofa saß und mir die Hände auf den Magen presste. Wenn ich mich nicht vorsah, würde ich als Nächstes eine ausgewachsene Panikattacke bekommen und mich zuckend in Tillys Körbchen verziehen.
»Das ist doch krank«, hatte Joe zu mir gesagt. »Diese ganze Unfallgeschichte. Wieso konntest du mir nicht einfach die Wahrheit sagen? Dass du keinen Kontakt mehr zu deinen Eltern hast?«
Die Wahrheit? Ich hatte keine Ahnung. Stattdessen saß ich da und sah zu, wie die Wespen aus dem Nest flogen, in das ich gestochen hatte. In diesem Augenblick hatte ich es beinahe als Gnadenakt empfunden, ihm zu gestehen, dass sie nicht tot waren; gewissermaßen dem zum Tode Verurteilen die Augen verbinden, bevor man ihn endgültig erschießt. Das Problem war nur, dass ich, nachdem ich ihm die Augenbinde angelegt hatte, nicht länger in der Lage war, abzudrücken.
»Sie waren religiöse Fanatiker«, hatte ich schwach hinzugefügt. »Und ich habe es nicht länger ertragen.«
»Welcher Religion haben sie denn angehört?«
»Spielt das eine Rolle?«
»Haben deine Eltern den Kontakt zu dir abgebrochen oder umgekehrt?«
»Großer Gott, Joe! Wo sind wir hier? Bei einem Ratespiel?« Ich hatte mich in die Tiefen des Kühlschranks geflüchtet. »Aber wenn du es schon unbedingt wissen musst – ich war diejenige, die den Kontakt abgebrochen hat«, hatte ich erwidert, unfähig, die Verachtung aus meiner Stimme zu verbannen.
»Wieso?«
»Weil sie schwach waren.«
Er hatte ungläubig aufgelacht. »Schwach? Findest du, Menschen sollten für ihre Schwäche bestraft werden?«
Ich war herumgefahren und hatte ihn mit todernster Miene angesehen. »O ja.«
Ich riss meinen Blick vom Fenster los, stand auf und begann, ziellos im Haus umherzugehen, kramte in irgendwelchen Schubladen herum, entsorgte zehn Jahre alte Wimperntusche und trug hellblauen Lidschatten auf, dann verfrachtete ich den Inhalt meines Kleiderschranks auf den Boden, zog uralte, leuchtend bunte Teile heraus und fragte mich, was mich um alles in der Welt geritten hatte, sie zu kaufen. Widerstrebend probierte ich etwas an, gelangte zu dem Schluss, dass es doch nicht so übel war, und legte es ordentlich gefaltet in den Schrank zurück, aus dem es erst wieder ans Tageslicht gelangen würde, wenn ich das nächste Mal ausräumte. Am Ende hatte ich so viele schräge Sachen aus früheren Zeiten anprobiert, dass ich wie die Moderatorin einer Kindersendung aussah – geradezu widerwärtig fröhlich mit leicht clownesker Anmutung.
In diesem höchst attraktiven Bekleidungszustand ging ich an die Tür, als einer dieser Vertreter läutete, die einen nicht in Ruhe lassen, selbst wenn man sie noch so höflich bittet, sie mögen wieder verschwinden. Heute jedoch ließ ich ihn sogar seine Waren auf der Türschwelle auspacken. Ich brauchte Gesellschaft. Und obendrein kaufte ich ihm ein Paar Ofenhandschuhe, eine Bürste zur Entfernung von Tierhaaren und ein Käsebrett ab. Unnützen Plunder, der mir im Grunde vollkommen gleichgültig war. Um ein Haar hätte ich ihn auf einen Kaffee hereingebeten, doch er schien es plötzlich eilig zu haben.
Für eine Weile zog ich mich erneut auf mein Sofa zurück und bürstete Tilly, trotzdem überkam mich immer wieder
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