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So sollst du schweigen: Roman (German Edition)

So sollst du schweigen: Roman (German Edition)

Titel: So sollst du schweigen: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clara Salaman
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Fleisch, beschloss ich, als der Mann mit dem Snackwagen näher kam. Ja, sie liebte Fleisch sogar. Es war ihr Lieblingsessen. Als Caroline Stern hatte ich erst ein einziges Mal Fleisch gegessen. Ein Würstchen. Totes Schwein, also.
    Schuld daran war nur meine Mum. Sie hatte versprochen, den Haustürschlüssel unter dem Blumentopf zu deponieren, es aber vergessen, so dass ich stundenlang auf den Stufen vor dem Haus auf sie warten musste.
    Carol Watson von nebenan war irgendwann herausgekommen und hatte sich gegen die Hausmauer gelehnt. Das machte sie ständig: Den Großteil ihrer Zeit brachte sie damit zu, gegen die Wand gelehnt mit den Nachbarn zu plaudern, während sie eine Zigarette nach der anderen paffte und sie mit der Sohle ihrer rosa Flauschpantoffeln ausdrückte. Alle blieben stehen und unterhielten sich mit Carol, mit Ausnahme meiner Eltern, versteht sich, die alles daran setzten, bloß kein Wort mit ihr zu wechseln. Meine Mum warf sogar stets einen Blick aus dem Fenster, bevor sie das Haus verließ, um sicher zu sein, dass Carol nirgendwo zu sehen war. Ich hingegen liebte Carol, obwohl mein Dad mir verboten hatte, mit ihr zu reden. Sie war riesengroß und hatte ein Gebiss, das sie jedoch praktisch nie trug – und wenn doch, musste man ständig Angst haben, dass es ihr beim Sprechen herausfiel. Sie trug geblümte Kittelschürzen und ihre rosafarbenen Flauschpantoffeln. Manchmal trat sie sogar in ihrem rosa Nylonmorgenrock vor das Haus und schwatzte mit den Nachbarn. Es schien sie nicht zu kümmern. Sie war nett zu allen Leuten, ohne Ausnahme; sogar zu dem Schwachkopf aus der Irrenanstalt am Ende unserer Straße, der jeden Tag mit einem riesigen Stadtplan in der Hand bei uns vorbeikam, obwohl er lediglich zum Laden an der Ecke und wieder zurück ging. Aber Carol half ihm jedes Mal, den Weg zu finden. »Geradeaus, Herzchen, dann da vorn abbiegen und wieder geradeaus. Ich achte darauf, dass du an der richtigen Ecke abbiegst.« Jeden Tag dieselbe Leier, als hätte sie es ihm nicht schon hunderte Male vorgebetet. Und wenn er um eine Zigarette bat, gab sie ihm eine. In ihr wohnte mehr vom Absoluten als in sämtlichen Anhängern der Organisation zusammen.
    An diesem Tag entdeckte Carol mich auf den Stufen sitzend. »Was machst du denn da, Herzchen?«, fragte sie, und als ich ihr erklärte, ich hätte keinen Hausschlüssel und könne deshalb nicht rein, meinte sie: »Aber du musst doch Hunger haben. Komm rüber, meine kleine Butterblume.«
    Ich hatte noch nie einen Fuß in das Heim von normalen Leuten gesetzt. Erstens gab es einen Fernseher, der die ganze Zeit lief. Das wusste ich, weil ich manchmal das Ohr gegen die Wand in meinem Zimmer presste und lauschte. Sie hatten auch keine Bücherregale und keine Bilder von Heiligen an den Wänden. Stattdessen hingen überall hübsche Poster von niedlichen, mit Wollknäulen spielenden Katzenkindern und in Eimern feststeckenden Hundewelpen. Carol meinte, sie hätte noch jede Menge zu essen übrig, weil Big Terry, ihr Ehemann – um ihn von Small Terry, ihrem Sohn, unterscheiden zu können – heute keinen großen Hunger gehabt hätte. Also ging ich ins Wohnzimmer, aber auf dem Sofa war kein Platz, weil Big Terry darauf fläzte und die gesamte Sitzfläche beanspruchte. Big Terry hatte den dicksten Bauch, den ich je gesehen hatte, und seine Hosen rutschten immer herunter, so dass man seine Poritze sehen konnte. Es sah so aus, als sehe er fern, doch plötzlich gab er einen ohrenbetäubenden Schnarchlaut von sich, der mir verriet, dass er schlief. Trotzdem gelang es ihm, dabei eine große Dose Bier auf seinem Wanst zu balancieren und eine Zigarette in der Hand zu halten. Big Terry arbeitete als Lkw-Fahrer. Er fuhr im ganzen Land herum und brachte Carol von überall her allerlei Zierrat und Steine mit, die sie auf dem Kaminsims aufgereiht hatte.
    Ich setzte mich in den großen Lehnsessel, und Carol brachte mir einen Teller. Es war die köstlichste Mahlzeit, die ich je genossen hatte – ein riesiger Berg Kartoffelbrei mit einer Portion Bohnen, die ihn wie ein Burggraben umgaben, und vier gewaltigen, wie Raketen aus der Masse ragenden Würsten. Die Portion war groß genug, um eine sechsköpfige Familie satt zu bekommen, doch ich verputzte alles bis auf die Würste. Nach einem winzigen vorsichtigen Bissen gelangte ich zu dem Schluss, dass ich es nicht schlucken konnte, weil ich ununterbrochen an das arme Schwein denken musste. Der Geschmack nach Schwein wollte nicht mehr von meiner

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