So sollst du schweigen: Roman (German Edition)
gehasst.
Ich musste aus dieser Uniform raus!
Ich sah eine blonde Frau mittleren Alters ins Untergeschoss gehen und folgte ihr, in der Hoffnung, dass mich die Verkäufer für ihre Tochter hielten. Ganz frech schnappte ich ein Paar Jeans von Oshkosh. Jeans! In meinem ganzen Leben hatte ich noch nie Jeans anziehen dürfen! Ich drückte sie an meine Brust, roch daran und streichelte den Stoff, während ich mehrere Pullis, eine Baseballjacke und ein Paar Sportschuhe zusammensuchte. Keine stinkenden alten Latschen von Green Flash, sondern rote, mit gekreuzten Schnürsenkeln und einem »Converse«-Aufdruck an der Seite. Mit gesenktem Kopf schlüpfte ich in eine der Umkleidekabinen und zog den Vorhang zu. Ich stopfte die Jeans, einen Pulli und die Jacke in die Plastiktüte und zog die Turnschuhe an. Meine eigenen ließ ich in der Ecke stehen, überlegte es mir jedoch in letzter Sekunde anders und packte auch sie ein. Vielleicht verrieten sie mich ja. Die Polizei hatte schließlich Schäferhunde, die nur einmal an etwas schnüffelten und einen dann durch die ganze Stadt verfolgten, durch Flüsse und über hohe Berge.
Ich trat aus der Kabine und legte einen der Pullis zurück, damit es so aussah, als hätte ich nichts Passendes gefunden, ehe ich mich meiner »Mutter« an die Fersen hängte und wartete, bis sie wieder nach oben ging. Scheinbar lässig schlenderte ich durch die Ladentür nach draußen.
Ich beschleunigte meine Schritte und verfiel in Laufschritt, für den Fall, dass mir jemand folgte. Als Nächstes musste ich eine öffentliche Toilette finden, wo ich mich umziehen konnte. Ich lief zurück, durchquerte Covent Garden und stand wieder auf The Strand. Im U-Bahnhof Charing Cross gab es garantiert Toiletten. Dort konnte ich meine Uniform loswerden.
Eine Putzfrau sah mich an, als ich hineinging. Wahrscheinlich wegen der Spuren von Erbrochenem auf meinen Sachen. Und natürlich wegen meiner lila Uniform. Ich verbarrikadierte mich in einer der Kabinen, öffnete die Tüte mit meinen Schätzen und zog mich aus. Ich muss zugeben, dass mir das Grinsen ins Gesicht zementiert war, weil ich so gut aussah. Wie ein ganz normales Mädchen. Die Jeans passten perfekt. Könnten Amy und Megan mich doch nur sehen! Die Schuhe waren der Renner, ganz besonders, da ich wusste, dass meine Mutter sie auf der Stelle in die Mülltonne geworfen hätte. Der graue Pulli war weich und eng anliegend, so dass meine Brüste betont wurden. Ich wurde zur Frau – wenn auch nicht so wie Deborah mit ihren riesigen Brüsten und den großen dunkelroten Brustwarzen. Sie hatte bereits ihre Tage, seit sie elf war. Ich strich den Pulli glatt und stopfte die stinkende Uniform in die Tüte. Die Hunde würden begeistert sein.
Ich blickte in den Spiegel und stellte fest, dass ich völlig anders aussah. Niemand würde mich wiedererkennen; nicht in diesen Sachen, die mich so normal wirken ließen. In meiner brandneuen grünen Baseballjacke trat ich aus der Kabine und sah mich um. Was jetzt? Am besten wäre es, in den nächsten Zug zu steigen und zu verschwinden. Wie auf ein Stichwort ertönten ein Pfeifen und eine Ansage aus dem Lautsprecher. Ich machte mich auf den Weg zu Gleis 4.
Ich kam an einer Gruppe lärmender Amerikaner in identischen beigen Regenmänteln und leuchtend weißen Turnschuhen vorbei. Es war zu schön, um wahr zu sein, beinahe so, als hätte Gott mich unter seinen persönlichen Schutz gestellt – eine aus der Gruppe, eine blonde, junge Frau mit einer dicken schwarzen Zahnspange, starrte angestrengt zur Anzeigetafel hinauf, ihre Handtasche einladend zu ihren Füßen.
Mit einer fließenden Bewegung schnappte ich sie und ging weiter. Es war fast zu einfach. Allem Anschein nach war ich die geborene Diebin. Eilig verschwand ich in der Menge, während ich die Tasche in meine stinkende Tüte stopfte, die ich später wegwerfen würde. Hinter mir wurden Stimmen laut. Die Zahnspangenträgerin musste bemerkt haben, dass ihre Tasche weg war. Aber ich war kleiner als alle anderen und fühlte mich nun, da ich wie alle anderen aussah, im wahrsten Sinne des Wortes unsichtbar. Ich erreichte den Bahnsteig, auf dem der Mann mit der Trillerpfeife stand, ging geradewegs an ihm vorbei zum Zug und stieg ein. Niemand machte Anstalten, mich aufzuhalten.
Schließlich fand ich einen freien Platz im hinteren Teil eines Waggons, gleich neben den Gepäckfächern, wo ich niemandem auffallen würde, und schob meine Plastiktüte unter den Sitz – ich würde sie so
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