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So sollst du schweigen: Roman (German Edition)

So sollst du schweigen: Roman (German Edition)

Titel: So sollst du schweigen: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clara Salaman
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Silbe kommentieren. Mein Vater würde beschließen, dass mein Name in diesem Haus nie wieder laut ausgesprochen werden durfte. »Ohne sie sind wir sowieso besser dran.« Sie würden mein Verschwinden als den Willen des Absoluten akzeptieren. Genau in diesem Moment würden sie meditieren. Nicht nur sie, sondern die ganze Horde drüben in England befand sich in diesem Moment bei der Meditation, wie immer, bei Sonnenauf- und Sonnenuntergang. Ich malte mir aus, wie sie in ihren Häusern in London saßen, in Chiswick. Sie saßen kerzengerade auf ihren Stühlen im schwindenden Licht des Tages, die Füße fest auf dem Boden, die Hände mit den Handflächen nach oben gekehrt auf den Oberschenkeln ruhend, mit reptilienartig flatternden Lidern, während sie stumm ihre Mantras rezitierten. Na ja, so sollte es zumindest ablaufen, in Wahrheit saßen sie lediglich herum und schreckten in unregelmäßigen Abständen hoch, wenn sie eingenickt waren.
    Ich dachte an Miss Fowler, die kalt und tot inmitten ihrer Eingeweide irgendwo in einem Krankenhauskeller lag. »Sie wurde ermordet«, würden sie rufen. »Findet dieses Kind! Jagt sie!« Die Polizei von Dover stand wahrscheinlich bereits mit bellenden Hunden am Ufer und hielt Ausschau nach mir.
    »Hallo«, sagte jemand hinter mir. »Hast du zufällig Feuer?«
    Es war der knutschende Typ aus dem Zug. Von seiner Freundin war weit und breit nichts zu sehen.
    »Nein«, antwortete ich. Er war schon ziemlich alt, bestimmt zwanzig oder so, und trug einen weiten Mantel und eine Wollmütze. Er ging zum nächsten Mann an der Reling, und ich sah zu, wie er versuchte, sich in der strammen Brise eine Zigarette anzuzünden.
    Wenig später kehrte er zurück und bot mir eine Zigarette an. Mit einer lässigen Geste, als wäre ich eine richtige Amerikanerin, nahm ich sie entgegen.
    »Du musst sie allerdings selber anzünden«, sagte er und reichte mir seine eigene Zigarette. Ich hatte keine Ahnung, was ich machen sollte. Er sah mir einen Moment lang zu, wie ich mit beiden Glimmstängeln in der Hand dastand und die glühenden Spitzen aneinanderhielt, dann nahm er sie mir aus der Hand.
    »Ich mache das schon«, erklärte er, zog heftig an einer der Zigaretten, während er die Glut der anderen dagegendrückte, und reichte mir dann die eine.
    »Wohin gehst du? Nach Boulogne?«, fragte er.
    »Boulogne?«, wiederholte ich. »Ich dachte, die Fähre geht nach Calais.«
    Ich war davon ausgegangen, dass alle Fähren nach Calais fuhren. Von Boulogne hingegen hatte ich noch nie gehört. In diesem Moment fiel mir ein, dass ich völlig vergessen hatte, mit meinem amerikanischen Akzent zu reden. Egal. Lorrie Fischer konnte schließlich in Amerika geboren und hier aufgewachsen sein.
    »Nein, diese Fähre geht nach Boulogne.«
    »Oh. Ich fahre nach Paris«, erklärte ich lässig. Es klang unheimlich reif, fand ich. Paris war die einzige Stadt in Frankreich, die ich außer Calais kannte. An unserer Schule gab es keinen Geografieunterricht – wahrscheinlich, weil wir sonst nur auf dumme Gedanken kommen könnten.
    »Und du?«, fragte ich und nahm den ersten Zug meines Lebens an einer Zigarette. Es schmeckte absolut widerwärtig, doch ich beschloss, mir nichts anmerken zu lassen. Zum Glück gelang es mir, keinen Hustenanfall zu bekommen. Er sah ziemlich gut aus, dieser junge Mann. Mir kam ein Gedanke – vielleicht ließ er seine Freundin ja sitzen und nahm mich an ihrer Stelle mit, wohin er auch immer gehen mochte. Wir könnten die ganze Welt bereisen.
    »Wir wollen nach Süden«, erwiderte er. »Per Anhalter.«
    »Anhalter?«
    »Na ja, mit dem guten alten Daumen.« Er hob die Hand und wackelte mit dem Daumen. O ja, per Anhalter. Wie romantisch – mit der Freundin gen Süden trampen. Ich wünschte, ich könnte etwas ähnlich Spannendes von mir geben.
    Er sah eine Weile aufs Meer hinaus, rauchte seine Zigarette zu Ende und warf die Kippe ins Meer.
    »Man sieht sich«, sagte er und ging wieder hinein.
    Ich blieb an Deck und rauchte meine Zigarette. Eigentlich schmeckte sie doch gar nicht so übel. Ja, Lorrie Fischer war eindeutig Raucherin.
    Ich blickte in die tiefschwarze Nacht hinaus. Die letzten Lichter Englands waren verschwunden, und das Mahlen der Schiffsmotoren dröhnte in meinen Ohren. Für den Bruchteil einer Sekunde flackerte Angst in mir auf, ich fühlte mich winzig, losgelöst von allem, so dass ich geradewegs ins Nichts trudelte, ins Unbekannte, während die Spitze meiner Zigarette orangefarben wie ein

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