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So sollst du schweigen: Roman (German Edition)

So sollst du schweigen: Roman (German Edition)

Titel: So sollst du schweigen: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clara Salaman
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schnell wie möglich loswerden müssen. Als der Zug den Bahnhof verließ, presste ich meine Nase gegen die Scheibe.
    Während London immer schneller an mir vorbeizog, lauschte ich dem hämmernden Schlag meines Herzens. »Weiter, weiter, weiter«, sang ich leise im Takt mit dem rhythmischen Rattern des Zuges. Ich hatte keine Ahnung, wohin er fuhr, beschloss jedoch, einfach bis zur Endstation sitzen zu bleiben. Je größer die Entfernung von London, umso besser.
    Es dauerte eine halbe Ewigkeit, bis die Stadt hinter mir lag, bestimmt eine halbe Stunde. Bis auf die Fahrten zu Exerzitien hatte ich London noch nie verlassen. Wenig später tauchte der Schaffner am anderen Ende des Waggons auf. Eilig nahm ich meine Plastiktüte, flitzte zur nächsten Toilette und schloss mich ein.
    Schwer atmend ließ ich mich auf den Toilettendeckel sinken und starrte auf die ausgebeulte braune Lederhandtasche auf meinem Schoß. Schließlich öffnete ich den Reißverschluss und zog eine Brieftasche heraus. »Lorraine Fischer« stand unter dem Foto des Mädchens mit der Zahnspange, allerdings trug sie darauf keine, sondern lächelte mit riesigen Hasenzähnen in die Kamera.
    »Lorraine Fischer«, sagte ich laut. »Lorraine Fischer. Lorrie Fischer.« Genau. Lorrie Fischer klang viel besser. Ich hatte mir schon immer einen Spitznamen gewünscht. »Das bin ich. Lorrie Fischer.«
    Mit Ausnahme der Zähne sah ich dem Mädchen auf dem Foto gar nicht so unähnlich. Mein nächster Fund war ein weiterer Beweis dafür, dass das Glück auf meiner Seite war – zwei Zehner und zwanzig einzelne Pfundnoten! So viel Geld hatte ich noch nie auf einen Haufen gesehen. Und zu meiner grenzenlosen Verblüffung steckten in der Außentasche auch noch vierhundertfünfzig Dollar. Ich hatte zwar keine Ahnung, wie viel das in Pfund ausmachte, da wir nie ins Ausland reisten und keine Tageszeitungen lasen, aber vierhundertfünfzig musste eine ganze Menge sein. Außerdem steckten massenhaft Kreditkarten in der Brieftasche, allerdings hatte ich keine Ahnung, was ich damit anstellen sollte, also schob ich sie wieder zurück.
    Als Nächstes zog ich einen Ausweis heraus. Wie es aussah, lächelte Gott geradewegs auf mich herab. Lorraine Fischer war sechs Jahre älter als ich und in Michigan in den Vereinigten Staaten von Amerika geboren. Ich wollte immer schon Amerikanerin sein. Und älter.
    Ein wattiertes Täschchen fiel mir ins Auge. Ich machte es auf – oh! Wie herrlich! Wahnsinn! Make-up! Bunte Tübchen und Stifte, Beutelchen und Tiegel. Ich stand auf und breitete meine Schätze auf dem Toilettendeckel aus. Danke, Lorraine Fischer!
    Schnell machte ich mich an die Arbeit, umrandete meine Augen mit einem dunklen Stift und trug bläulich violetten Lidschatten auf, so wie ich es in Zeitschriften gesehen hatte. Dann legte ich rosa Lippenstift auf und verrieb etwas davon auf meinen Wangen. Allmählich kam Lorrie Fischer zum Vorschein. Sie hatte große dunkelblaue Augen, ausgeprägte Wangenknochen und volle Lippen. Mit einer Nagelschere schnitt ich mir die Haare ab und spülte ein dickes Büschel von Caroline Stern die Toilette hinunter. Eine Bob-Frisur! Am liebsten hätte ich einen Freudentanz aufgeführt, als Zeichen meiner Dankbarkeit für die Normalität.
    Als ich aus der Toilette trat, war die Reise für Caroline Stern beendet, und vor mir öffnete sich die Tür zur wunderbaren Welt der Lorrie Fischer.
    Noch immer euphorisch, lehnte ich die Stirn gegen die Fensterscheibe und beobachtete, wie die Welt an mir vorüberzog. Von nun an würde ich ein neues Leben führen. Ich hatte Miss Fowler getötet; ich hatte es tatsächlich getan. Und ich bedauerte meine Tat nicht. Selbst wenn sie mich am Ende schnappen sollten – ein Leben im Gefängnis konnte nicht schlimmer sein als das, was hinter mir lag. Allerdings hatte ich nicht die Absicht, mich erwischen zu lassen. Ich musste Pläne schmieden.
    Der Mann mit dem Snackwagen kam den Gang entlang auf mich zu. Er hatte ein derbes, gutmütiges Gesicht und scherzte mit einem der Fahrgäste. Die Art, wie er beim Lachen den Kopf in den Nacken legte, gefiel mir, und ich fragte mich, ob er wohl Kinder hatte oder gern welche adoptieren würde.
    Eine Mörderin zu sein war nicht so schlimm, wie man annehmen würde. Wenn man nicht genauer darüber nachdachte, was man getan hatte, kam man eigentlich ziemlich gut klar. Außerdem war ich ja nicht länger Caroline Stern. Sondern jemand, der ganz anders war als sie. Erstens aß Lorrie Fischer

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