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So sollst du schweigen: Roman (German Edition)

So sollst du schweigen: Roman (German Edition)

Titel: So sollst du schweigen: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clara Salaman
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einzige Nachteil war, dass ich kein Französisch sprach – der Whopper hieß diese Sprache nicht gut. Keine Ahnung, wieso. Aber ich würde es eben lernen. Die Leute würden über die Auffassungsgabe staunen, mit der ich mir die Sprache aneignete. Mindestens genauso wie ich selbst.
    Vielleicht könnte ich ja mit dem Tragflächenboot übersetzen. Amy war schon mal mit einem gefahren. Sie sagte, es sei wie eine riesige Luftmatratze, die übers Wasser flog, immer nur wenige Zentimeter über der Oberfläche, ohne sie je zu berühren. Amys Familie hatte mehr Geld als meine, deshalb war sie auch schon einmal verreist.
    Ich ließ die Tüte mit den vollgekotzten Sachen unter meinem Sitz, stieg in Dover Priory aus und folgte dem Wegweiser »Passagiere zu Fuß«. Alle anderen Leute hatten Rucksäcke dabei. Ich wünschte, ich hätte ebenfalls einen, um noch ein wenig unauffälliger zu sein. Ich hängte mich an das junge Pärchen, das irgendwann stehen blieb und knutschte. Vielleicht könnte ich ja so tun, als gehörte ich zu ihnen, um nicht so sehr aufzufallen. Vielleicht könnten wir ja irgendwann sogar Freunde werden und gemeinsam Rucksäcke und andere Sachen kaufen gehen.
    Der Kauf meiner Fahrkarte verlief reibungslos, doch als ich nun zur Passkontrolle ging, wurde ich nervös und versuchte, meine Vorderzähne über die Lippe zu schieben, um der richtigen Lorraine Fischer etwas ähnlicher zu sehen. Die Frau am Schalter betrachtete mein Foto kaugummikauend, tippte mit ihren langen, rot lackierten Nägeln auf Lorraine Fischers Pass, klappte ihn zu und reichte ihn mir.
    »Gute Reise«, sagte sie. Amerikaner hörten so etwas gern, also lächelte ich dümmlich und bedankte mich mit meinem besten amerikanischen Akzent. Der einzige Amerikaner, den ich kannte, war Mr   Steinberg, deshalb basierte mein gesamtes Wissen auf ihm. »Eine Fahrkarte nach Frankreich, bitte«, hatte ich gesagt. Ich fand meinen Akzent ganz okay, aber bestimmt wäre er wesentlich besser, wenn wir einen Fernseher zu Hause hätten.
    Am Ende fuhr ich doch nicht mit dem Tragflächenboot – es war ausgebucht –, und in Wahrheit war ich froh darüber, weil man nicht nach draußen gehen konnte, soweit ich wusste. Also stand ich an Deck der normalen Fähre und sah den Autos zu, wie sie im Bauch der Fähre verschwanden, während ich nach der Polizei Ausschau hielt, die mir bestimmt bald auf den Fersen wäre.
    Ich dachte an London, an Miss Fowlers Leiche, die inzwischen wahrscheinlich in irgendeinem Leichenschauhaus aufgebahrt lag. Wenn sie erst einmal ihren Mageninhalt überprüft und die Todesursache herausgefunden hatten, würden sie geradewegs zu ihrem Schrank gehen und den getrockneten Fingerhut finden. Und dann würden sie nach mir fahnden.
    Eilig kehrte ich zum vorderen Teil der Fähre zurück und lehnte mich gegen die Reling, in der Hoffnung, dass sie bald ablegen würde. Schon bald gesellten sich andere Passagiere zu mir. Na schön, sie leisteten mir nicht direkt Gesellschaft, sondern ich war noch immer ganz allein, aber wenigstens standen sie neben mir, und das fühlte sich gut an.
    Die untergehende Sonne leuchtete kupferrot am Horizont und verwandelte das Meer in einen glühenden Vulkankrater. Der Wind fühlte sich eisig auf meinen Wangen an. Ich schlang meine neue Jacke enger um mich und sah zu, wie die Sonne vollends versank, als sich die Fähre in Bewegung setzte. Mit einem Mal wurde mir das Ausmaß dessen, was ich da tat und was ich getan hatte, bewusst, und ich spürte Panik in mir aufsteigen. Rückblickend betrachtet, würde ich jedem raten, lieber in Begleitung abzuhauen als allein. Es ist schwer, guten Mutes zu bleiben, wenn man ganz auf sich allein gestellt ist. Ich beschloss, mir zur Belohnung einen Crunchie-Riegel zu genehmigen.
    Eine halbe Stunde später war die Sonne untergegangen, und erste Sterne funkelten am Himmel. Inzwischen war ich in den hinteren Teil der Fähre gegangen, aß meinen Crunchie-Riegel und sah ein paar Möwen zu, die im Fahrwasser der Fähre nach Fischen Ausschau hielten. England verschwand allmählich aus meinem Blickfeld. Bis auf ein paar vereinzelte Lichter in der Ferne war kaum noch etwas davon zu erkennen. Ich dachte an Megan, die in ihrem warmen Zuhause in ihrem behaglichen, faltenfreien Bett lag, gemütlich und sicher. Ich dachte an meine Eltern in unserem eiskalten Zuhause, mit der brennenden Deckenlampe in der Küche und den flatternden Sanskritblättern an der Wand. Keiner von ihnen würde mein Fehlen mit einer

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