So sollst du schweigen: Roman (German Edition)
einsamer Planet im schwarzen Universum glühte.
8
Bis zum Tag, an dem ich sterbe, wird das Bild in meine Netzhaut eingebrannt sein – jener Ausdruck auf Joes und Megans Gesicht, als sie am unteren Treppenabsatz standen: eine Mischung aus Verwirrung, Ungläubigkeit, Fassungslosigkeit und Kränkung, wie sie schlimmer nicht sein könnte.
Da waren wir. Joe, Megan, Steinberg und ich, festgefroren in einem abscheulichen Stillleben des Betrugs und des Ertapptwerdens. Ich war die Erste, die sich aus ihrer Erstarrung löste. Mein Stuhl gab ein lautes Scharren von sich, als ich ihn zurückschob. Peinlicherweise musste ich zuerst in meine hohen Pumps schlüpfen, die unter dem Tisch lagen; ein weiterer Beweis für meine Schande. Typisch! Ausgerechnet an dem Tag, an dem ich hohe Schuhe trug, musste ich die Beine in die Hand nehmen und abhauen.
Ohne Steinberg anzusehen, wandte ich mich um, nahm meine Handtasche vom Stuhl und verließ die Küche, vorbei an Joe und Megan. Dann folgte die nächste Peinlichkeit: Ich bekam die Haustür nicht auf, so dass Megan mir zu Hilfe kommen und sie für mich aufmachen musste.
»Hoffentlich war der Bollinger lecker«, rief sie mir sarkastisch hinterher, als ich steifbeinig dem Weg zum Gartentor folgte. Die Kränkung in ihrer Stimme war unüberhörbar.
Ich ließ den Wagen stehen und ging zu Fuß die Chiswick High Street entlang.
Anfangs konnte ich nicht genau sagen, wie ich mich fühlte. Ich spürte einen Kloß im Hals, und mein Mund war voller Speichel. Ein stechend heißer Schmerz brannte in meinen Augenhöhlen, der sich durch meine Linse zu ätzen schien, beinahe so, als bluteten sie. Aber, nein, ich kannte dieses Gefühl. Ich weinte! Heiße, salzige Tränen, die mir ungehindert über die Wangen strömten. Ich konnte sie nicht zurückhalten, und ich versuchte es auch gar nicht. Sie strömten und strömten. Passanten starrten mich an. Tränen, die sich in den vergangenen fünfundzwanzig Jahren in mir angestaut hatten, schienen sich mit einem Mal Bahn brechen zu wollen und liefen mir übers Gesicht wie ein salziger Exodus.
Ich bog in die Askew Road ein. Leute kamen aus dem Eagle, eine fröhlich lärmende, lachende Meute.
»Alles klar, Süße?«, erkundigte sich ein junger Mann, während mir seine Freundin die Hand auf die Schulter legte und mir ein Papiertaschentuch reichte. Keine unnötigen Fragen. Die Freundlichkeit von Fremden kann manchmal unerträglich sein.
Ich hätte noch eine halbe Ewigkeit weitergehen können, und als ich nach Hause kam, hatte ich keine Ahnung, wie lange ich unterwegs gewesen war. Der Wagen stand nicht vor dem Haus, drinnen brannte kein Licht. Mit einem Mal fühlte es sich nicht länger wie ein Zuhause an, sondern nur noch wie ein x-beliebiges Haus. Ich schloss die Tür auf und wurde von einer schwanzwedelnden Tilly überschwänglich begrüßt, die ich völlig vergessen hatte. Schluchzend ließ ich mich auf den Dielenboden sinken und versuchte, sie in die Arme zu nehmen, worauf sie jedoch nicht allzu versessen war.
Ich blieb die ganze Nacht am Fenster sitzen und wartete auf Joe. Bei jedem Motorengeräusch begann mein Herz zu hämmern. Doch er tauchte nicht auf.
Irgendwann wachte ich auf dem Sofa auf, noch immer in meinem engen Rock. Ich zog meine Sachen aus und stopfte alles in den Müll. Dann rief ich bei der Arbeit an und hinterließ eine Nachricht, ich sei krank. Ich ging nach oben und nahm ein Bad, wartete, wartete und wartete. War ich nur ein dummes kleines Mädchen, das zurückhaben wollte, was man ihm weggenommen hatte? Ich musste ihm unbedingt sagen, wie leid mir all das tat.
Doch auch in dieser Nacht kam Joe nicht nach Hause, ebenso wenig wie in der nächsten und in der übernächsten. Und er reagierte weder auf Anrufe noch auf SMS.
Jeden Tag rief ich im Büro an und meldete mich krank. Ich wanderte im Haus umher, wartete, starrte aus dem Fenster, lud mein Handy auf, saß neben dem Festnetztelefon, aus Sorge, ich könnte seinen Anruf verpassen, wenn ich nur kurz in den Garten hinausging. Ich putzte das Haus, pflückte Blumen, versuchte, ihm einen Brief zu schreiben, doch was hätte ich ihm schon sagen können, außer dass es mir leidtat. Ich schickte ihm SMS, hinterließ ihm Nachrichten auf Band, ich kochte und fror die Mahlzeiten ein. Ich saß schluchzend am Küchentisch. Ich zog mich um, ich schminkte mich und wurde immer hektischer und angespannter.
Als ich am dritten Morgen in der Badewanne lag – sicherheitshalber tauchte ich nicht mit dem
Weitere Kostenlose Bücher