So sollst du schweigen: Roman (German Edition)
wissen.
»Stimmt«, bestätigte ich, und für ein paar Minuten erschien mir die Welt nicht mehr ganz so trübselig. Er begleitete mich zurück zum Wagen.
Ich begann, den Spaziergang täglich zu unternehmen. Im Morgengrauen fuhr ich los und sah zu, wie das Licht des Tages den Horizont färbte, manchmal rot, manchmal rosa oder lila, an anderen Tagen unspektakulär grau, so als wolle sich die Sonne nicht überreden lassen, zu zeigen, was sie konnte. Ich beobachtete die kleinen Veränderungen, die wilde Entschlossenheit des Farns, aus der Erde zu sprießen, jeden Tag ein Stück mehr, die Hasenglöckchen, die wie aus dem Nichts auftauchten – eines Morgens waren sie einfach da –, aufgehende Knospen und Blätter, die mit jedem Tag in der Gewissheit der Wärme, die der Frühling unweigerlich mit sich bringen würde, ein Stück größer und grüner wurden.
Nach ein, zwei Wochen kam mir ein Gedanke, der mich höchstwahrscheinlich rettete. Das Leben konnte unmöglich reiner Zufall sein. Es basierte nicht auf purem Chaos. Völlig ausgeschlossen. Die Sonne ging jeden Tag aufs Neue auf. Und sie ging jeden Tag wieder unter. Im Frühling entstand überall neues Leben, im Sommer waren die Bäume voll grüner Blätter, die im Herbst starben und herabfielen. Der Winter hingegen schien aus nichts als karger Trostlosigkeit zu bestehen. Allerdings barg dieses Nichts zahllose Möglichkeiten. Aus dem Nichts entstand unweigerlich irgendetwas.
Der Welt wohnte eine nicht von der Hand zu weisende Ordnung inne.
Dieser Gedanke erfüllte mich mit so großer Hoffnung, dass ich über die Wiese hüpfte, wo sämtliche Gefängnisinsassen mich sehen konnten. »Es gibt eine Ordnung«, rief ich ihnen zu. »Gebt die Hoffnung nicht auf!«
Allerdings ärgerte ich mich beim Nachhausekommen über mich selbst, über die Leichtigkeit, mit der ich den Gedanken akzeptiert und meine Schlüsse daraus gezogen hatte. Ich hatte ihn ohne längere Überlegung in einen banalen kleinen Lehrsatz gepackt. War es das, was uns am Leben hielt – waren wir normale Menschen mit einfachen Lehrsätzen, die ihnen halfen, normal zu bleiben, weil sie ihre Existenz rechtfertigten?
Ich beschloss, dass es mich nicht kümmerte. Der springende Punkt war, dass es unwichtig war, woran wir glaubten, solange uns der Glaube nur half, am Leben zu bleiben. Und was mich betraf, brachte mich das Chaos geradewegs an den Rand der Verzweiflung.
Ich glaubte an die Ordnung.
Am nächsten Tag ging ich wieder zur Arbeit.
Es war meine erste Therapiestunde mit zwei Brüdern im Teenageralter, und sie verlief gut, fand ich. Offen gestanden war es eine Wohltat, sich zur Abwechslung Gedanken über die Probleme anderer Menschen zu machen, statt über meine eigenen. Ich hätte schon viel früher wieder ins Büro zurückkehren sollen. Ich lauschte dem Älteren der beiden Jungs, der maulte, es interessiere ihn einen Scheißdreck, ob er ins Gefängnis käme, als ich reichlich abrupt aufstand, den Papierkorb packte und einen Strahl Erbrochenes von mir gab. Die beiden Jungs starrten mich fassungslos an, und ich, nicht minder verblüfft, starrte zurück.
»Okay.« Ich stellte den Papierkorb zur Seite und nippte an meinem Wasser, als würde ich jede Therapiesitzung auf diese Weise beenden. »Ich denke, das reicht für heute.«
Ich nahm meine Sachen und ging nach draußen, um ein bisschen frische Luft zu schnappen. Mir war immer noch übel. Normalerweise wurde mir so selten schlecht, dass ich die paar Male an einer Hand abzählen konnte. Sofort musste ich daran denken, wie es in den Filmen immer dargestellt wird: Die Heldin stürzt unvermittelt zur Toilette und übergibt sich. Nach dem Motto: »Oh, jetzt ist alles klar. Sie ist schwanger.« Aber genauso erging es mir. Nur dass ich es nicht mehr rechtzeitig zur Toilette schaffte.
Verdammt.
Bitte nicht. Bitte, bitte, nicht jetzt. Ich führe niemals Buch über meinen Zyklus. Seit fünfundzwanzig Jahren war das Einsetzen meiner Periode jeden Monat aufs Neue eine Überraschung, deshalb war es mir nicht aufgefallen, dass sie seit einer Weile ausgeblieben war. In letzter Zeit gab es so einiges, was mir nicht aufgefallen war; das Ausbleiben meiner Regel stand auf dieser Liste so ziemlich an letzter Stelle.
Ich ging die Camden High Street hinunter zum nächsten Drogeriemarkt, kaufte einen Test, schloss mich damit auf der Toilette im Caffè Nero ein und pinkelte auf den Streifen. Und innerhalb von zwei unerträglich langsam verstreichenden Minuten veränderte
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