So sollst du schweigen: Roman (German Edition)
Zimmerdecke zu starren und gelegentlich in Tränen auszubrechen. Die Nächte stellten eine gewisse Erleichterung dar, da die Dunkelheit erträglicher war als das harsche Licht des Tages und ich sicher sein konnte, dass ich irgendwann vor Erschöpfung einschlafen würde. Die allerschlimmste Zeit war die Morgendämmerung, wenn ich aufwachte und allmählich die Gewissheit kam, dass ein weiterer endloser Tag vor mir lag, den es zu überstehen galt. Dies war zweifellos die prädestinierte Stunde für Selbstmorde, wenn der Schlaf einen verließ und in den Tag hinaussandte.
Eines Morgens wurde ich von Schluchzen geweckt. Es dauerte eine ganze Weile, bis ich feststellte, dass es aus meinem Mund kam, und noch länger, um mir über die Ursache klar zu werden. Ich weinte um Caroline Stern. Um mein dreizehnjähriges Ich. Um das Mädchen, das von zu Hause weggelaufen und in den Zug gestiegen war, das ihr Leben hinter sich gelassen und sich selbst verloren hatte. Zum ersten Mal schien Lorrie Fischer, die erwachsene Frau, die Existenz von Caroline Stern, dem Mädchen, zur Kenntnis zu nehmen. Und ich bemerkte, wie gern ich sie beschützen wollte. Wie gern ich ihr sagen wollte, was für ein tapferes Mädchen sie war.
Zum Glück begann Tilly in diesem Moment mein Gesicht abzulecken. Vielleicht musste sie pinkeln oder ein Häufchen machen, vielleicht war es ihr Versuch, mich ein wenig aufzumuntern, oder sie hatte einfach nur genug von der Eintönigkeit. Sie sprang vom Bett und ging schnüffelnd im Raum umher, wobei ihre Krallen auf den Holzdielen klackerten. Der arme Hund hatte seit einer Woche keinen anständigen Spaziergang mehr gemacht. Mein Bad im Selbstmitleid musste ein Ende haben. Ich trat die Decke weg, zog mir ein paar alte Sachen über und fuhr mit ihr in die Wormwood Scrubs.
Es war noch dunkel, doch Tillys weißes Hinterteil leuchtete, als sie ins Gebüsch und wieder heraus lief; offenbar hatte sie die Bewegung dringend nötig gehabt. Ich sah zu, wie sie über die Sportplätze fegte, wie es sich für einen anständigen Whippet gehörte. Ich folgte ihr und sah im Gefängnis die Lichter angehen. Ich beneidete die Insassen um die Routine ihres Daseins, darum, dass jemand sie zwang, morgens aufzustehen, Frühstück zu machen und seiner Arbeit nachzugehen.
Als es heller wurde, machte ich eine vertraute Gestalt aus, die auf mich zukam – der einbeinige Jogger. Verdammt, ich hatte die Leine nicht mitgenommen, und der dämliche Citronella-Behälter war seit einer halben Ewigkeit leer.
»Tilly!«, rief ich, doch es war zu spät. Sie hatte ihn bereits erspäht.
Er blieb abrupt stehen und schrie: »Nehmen Sie diesen Hund an die Leine!«
Ich rannte hinüber, während sie wie von Sinnen sein Bein ankläffte, und bekam sie schließlich am Halsband zu fassen, während er auf der Stelle trabte, um bloß nicht aus dem Rhythmus zu kommen.
»Herrgott noch mal!«, herrschte er mich an.
Diese drei Worte genügten. Ich brach in Tränen aus und begann ohne jede Scham zu schluchzen. Was war aus mir geworden? Mein erster Kontakt mit der Außenwelt seit Tagen, und ich brach in aller Öffentlichkeit zusammen. Allem Anschein nach hatte ich einen Nervenzusammenbruch erlitten.
»Lassen Sie uns in Ruhe!« Schützend legte ich den Arm um Tilly. »Lassen Sie uns einfach in Ruhe!«, schluchzte ich.
Er blieb stehen.
Ich registrierte, wie er neben mir in die Hocke ging, und hörte beinahe den Groschen fallen, als ihm dämmerte, dass ich geisteskrank war.
»Es ist nur …«, stammelte er in einem völlig veränderten Tonfall. »Ich habe Angst vor Hunden.«
Ich nickte und sah zu ihm hoch. »Okay«, sagte ich. »Aber sie tut Ihnen nichts. Sie tut überhaupt niemandem etwas.«
»Ich wollte nicht …«
»Kein Problem«, unterbrach ich ihn. »Es hat nichts mit Ihnen zu tun. Ich heule die ganze Zeit. Es ist erbärmlich.«
Mittlerweile war im Gefängnis der Tag endgültig angebrochen. Hinter den meisten Fenstern brannte Licht. Der Jogger hockte noch immer neben mir.
»Äh … na ja, ich kenne mich da nicht so gut aus, aber es gibt Leute … die Ihnen helfen können.«
»Ich weiß«, erwiderte ich halb lachend, halb weinend. »Ich bin eine davon.«
»Oh.«
Die Ironie blieb ihm nicht verborgen. Er half mir auf, und wir gingen ein Stück nebeneinander her. Tilly beäugte zwar sein künstliches Bein immer noch argwöhnisch, benahm sich aber anständig.
»Na ja«, meinte er, »manchmal ist das Leben schon hart.«
Und er musste es ja
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