So sollst du schweigen: Roman (German Edition)
hielt. Doch ebenso wie der U-Bahnhof war auch sie mittlerweile längst Geschichte, ein Gespenst aus der Vergangenheit.
Ich ließ mich vom Menschenstrom bis zur hochmodernen Rolltreppe treiben, die mittlerweile das klapprige Holzding von einst ersetzte. Woher kamen all diese Leute, die zweifellos hier in der Gegend wohnten? Es war, als sehe man jemandem zu, wie er entspannt in dem Wagen davonfuhr, den er dir gerade geklaut hatte. Wo war der alte Schwarze geblieben, der früher die Fahrkarten entzweigerissen und einmal einen Pädophilen verjagt hatte, der sich an mich herangemacht hatte?
Mit einem Anflug von Befriedigung registrierte ich, dass Archway selbst immer noch eine üble Gegend war. Zwar hatte man versucht, die Straßen ein bisschen zu verschönern, aber mit wenig Erfolg. Ich schlug den vertrauten Weg ein. Wie viele Male war ich am Nat West und beim alten Drum & Monkey vorbeigekommen? Früher hatten sie dort in einer Büchse Geld für die IRA gesammelt. Carol Watson hatte mir erzählt, Big Terry hätte im Drum & Monkey mal einen Kerl »plattgemacht«. Selbst als ich jetzt leicht verängstigt daran vorbeiging, malte ich mir aus, wie er sich auf seinen Feind warf und wie ein Nudelholz auf ihm herumrollte, bis derjenige im wahrsten Sinne platt war, während die Umstehenden einen ungehinderten Blick auf seine Po-Ritze werfen konnten.
Ich bog in unsere alte Straße ein und spürte wie erwartet einen heftigen Stich in der Magengegend. Ich hatte mir eingeredet, dass sie um diese Uhrzeit nicht zu Hause wäre, sondern irgendwo für die Organisation schuftete, doch ich wollte unbedingt unser Haus sehen. Ich wollte meiner kleinen Krabbe zeigen, wo ich aufgewachsen war.
Mit wachsender Übelkeit ging ich den Hügel hinauf. Diese Straße war eindeutig verschönert worden; keine Autowracks und besetzten Bruchbuden mehr, sondern frisch gestrichene Häuser und neue Geländewagen davor. Als ich um die Ecke bog, hielt ich unwillkürlich Ausschau nach Carol Watson, aber bestimmt war sie längst tot. Eine andere Familie war hier eingezogen. Hinter dem Fenster sah ich eine Art Babylaufwagen und fragte mich, ob meine Mutter im Lauf der Jahre freundlicher geworden sein mochte und mit diesen Leuten redete oder gar das Baby anlächelte.
Ich spürte, wie mir das Herz bis zur Kehle schlug, als ich zu unserem Haus hinüberspähte, das jedoch hinter der hohen Hecke nicht zu erkennen war.
Und dann sah ich es auf einmal.
Ich blieb stehen und starrte das Haus wie gebannt an, während die Erinnerungen über mich hinwegspülten und mich von den Füßen zu reißen drohten. Halt suchend griff ich nach dem schwarzen, schmiedeeisernen Gartentor und blickte zur Tür. Es war dieselbe alte dunkelgrüne Haustür mit den beiden Glaseinsätzen, über die ich immer mit dem Finger gestrichen hatte, während ich in die wortlose Düsternis spähte, die mich dahinter erwartete.
Ich öffnete das Gartentor und trat zur Haustür. Es sah nicht so aus, als wäre jemand da, allerdings hatte das Haus stets genau diesen Eindruck vermittelt.
Ich stand auf dem Kohleschacht und fragte mich, ob ich mich gleich übergeben würde. Konfrontieren. Konfrontieren. Ich klopfte an die Tür. Das war mein Messingtürklopfer, den ich im Garten hinter dem Haus ausgebuddelt hatte. Ich hörte Geräusche im Haus, während meine Furcht wuchs, mich im nächsten Moment auf der Türschwelle übergeben zu müssen. Ich stützte mich am Türrahmen ab und sammelte mich. Durch die Glaseinsätze erkannte ich eine Gestalt am oberen Treppenabsatz vor der Toilette, die langsam und vorsichtig herunter und auf mich zukam.
Es war ein Mann, ein großer, aber alter und gebückt gehender Mann. Hatten sie nicht gesagt, mein Vater sei tot? Ich starrte durch die geriffelten Scheiben. Der Mann öffnete die Tür.
Auf die Idee, dass sie nicht mehr in diesem Haus lebten, war ich gar nicht gekommen. Meine Eltern gehörten nicht zu den Menschen, die irgendwo anders hinzogen. Eine Verbesserung ihrer finanziellen Lage kam nicht infrage, und ein anderer Grund für einen Umzug wollte mir beim besten Willen nicht einfallen.
»Ja?«, sagte der alte Mann und öffnete die Tür nur einen Spaltbreit, als fürchte er, ich könne mir gewaltsam Zutritt verschaffen.
»Hallo«, sagte ich mit einer Mischung aus Enttäuschung und Erleichterung und spürte, dass sich mein Mund plötzlich staubtrocken anfühlte. Ich räusperte mich, wusste jedoch nicht, was ich sagen sollte. »Äh … ist dies das Haus der
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