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So sollst du schweigen: Roman (German Edition)

So sollst du schweigen: Roman (German Edition)

Titel: So sollst du schweigen: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clara Salaman
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ausgerechnet du über die Welt weißt? Du setzt doch noch nicht einmal einen Fuß vor deine beschissene Haustür! Wage es nicht, hier anzutanzen und mir zu drohen. Und jetzt verschwinde aus meinem Haus, verdammt noch mal!«
    Und genau das tat sie auch.
    Ich beschloss, das Baby zu behalten. Ich hatte mir ein Buch mit Fotos von Föten in den verschiedenen Stadien der Entwicklung gekauft und entwickelte so etwas wie Stolz, dass ich zu so etwas in der Lage war. Ich konnte ein Lebewesen in meinem Bauch heranwachsen lassen. In gewisser Weise hatte ich mich noch nie so gut gefühlt – die Gewissheit, ein Rädchen in der großen Maschinerie zu sein, bedeutungslos und zugleich doch überlebenswichtig. Ich hatte getan, wofür ich von der Natur vorgesehen worden war: Ich diente als Vehikel für den Fortbestand des Lebens. Endlich konnte ich diese ermüdenden Gespräche werdender Mütter nachvollziehen. Wieder und wieder schoben sich unwillkürlich mütterliche Gedanken in mein Bewusstsein. Ich ertappte mich dabei, wie ich aus dem Fenster starrte und völlig verzückt über die Entwicklung des Wesens in mir sinnierte oder im Bett lag und liebevoll meinen anschwellenden Bauch streichelte.
    Das Buch zeigte das Wachstum des Kindes im Monatsabstand. Ich nahm mir vor, die Seiten immer erst umzublättern, wenn ich das jeweilige Stadium erreicht hatte, um es nicht mit einem Fluch zu belegen. Im Augenblick sah das Baby wie eine winzige Krabbe aus, mit stumpenförmigen Gliedmaßen und hervorquellenden Augen. Wann immer ich etwas aß, dachte ich: »Hier, meine kleine Krabbe, damit wächst dir ein Ohr.« Allerdings konnte ich mich nicht überwinden, an die Zukunft zu denken; daran, dass in neunundzwanzig Wochen aus der Krabbe ein richtiges Baby geworden wäre. »Doktor! Doktor! Ist es ein Junge oder ein Mädchen?« Nein, ich würde rufen: »Doktor! Doktor! Ist es schwarz oder weiß?«
    Schlampe.
    Ich unterdrückte diese Gedanken, sobald sie mir in den Sinn kamen, denn allein bei der Vorstellung, all das allein hinbekommen zu müssen, packte mich die kalte Angst.
    Mittlerweile war ich in der elften Woche und hatte eine kleine Kugel.
    Ich machte mir einen Tee und legte mich auf das seidenbespannte, fleckige Sofa aus dem 18.   Jahrhundert. In letzter Zeit dachte ich häufiger an meine Mutter – aus naheliegenden Gründen. Seit Jahren wusste sie also, was ich getan hatte. Dass ich eine Mörderin war. Sie hatte eins und eins zusammengezählt. Ich hatte mich immer gefragt, ob sie dahintergekommen war. Wem hatte sie noch davon erzählt? Und wieso hatte sie es Megan verraten? Allerdings hatte sie unter Garantie keine Anzeige gegen mich erstattet. Ich fragte mich, ob sie mit meinem Vater darüber geredet hatte. An diesem Tag im Garten, als ich das erste Mal wieder gesprochen und den Entschluss gefasst hatte, Miss Fowler zu töten, musste sie es gewusst haben. Sie hatte meinen Gedankengang nachvollzogen und gewusst, dass sie diejenige gewesen war, die mich auf diese Idee gebracht hatte. Vielleicht hatte sie deshalb geschwiegen – weil sie sich indirekt verantwortlich fühlte. Oder es war ihr Versuch, mich zu beschützen, auch wenn dieser Gedanke ziemlich unwahrscheinlich war.
    Hatte sich meine Mutter mit mir in ihrem Bauch genauso gefühlt wie ich jetzt? Ich versuchte, sie mir als junge Frau vorzustellen, wie sie ihren gerundeten Leib tätschelte, doch es gelang mir nicht. Meine Mutter war bestimmt viel zu beschäftigt gewesen, die Treppen der Organisation zu schrubben. Trotzdem ging mir die Frage nicht mehr aus dem Kopf: Hatte sie mit derselben liebevollen Güte an mich gedacht, wie ich es heute mit diesem kleinen Wesen tat, das in mir heranwuchs? Hatte auch sie stundenlang aus dem Fenster gesehen und über das Wunder der Natur gestaunt? Hatte sie mich voller Liebe in ihrem Bauch wachsen gespürt?
    Und dann dachte ich an Thomas. Wie mochte es für sie gewesen sein, ein Baby zu verlieren? Bei seinem Tod war ich fünf gewesen. Sie hatten ihn mit Fieber ins Krankenhaus gebracht, waren aber ohne ihn wieder nach Hause zurückgekehrt. Ich erinnere mich, wie all seine Sachen aus dem Haus verschwanden. Sein Lieblingsschmuseteil, ein Stück Pelz, das er streichelte und sich vor die Nase hielt, wenn er am Daumen lutschte, und einen alten rosafarbenen Hasen, den er mit ins Bett nahm, seine winzigen Schlafanzüge, denen ein leichter, doch keineswegs unangenehmer Geruch nach Erbrochenem entströmte. Selbst seine schmutzigen Windeln hatten für mein

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