So sollst du schweigen: Roman (German Edition)
Empfinden süßlich gerochen, wie der Duft, der aus der Bäckerei in der Junction Road auf die Straße wehte. Was war aus all seinen Sachen geworden? Nur einen Gegenstand hatte meine Mutter aufbewahrt – sein Pelzstück, das ich Jahre später in ihrer Kommodenschublade bei ihrem Bindengürtel und ihrem Diaphragma gefunden hatte.
Sein Sarg war winzig, wie ein Spielzeug; so klein, dass meine Puppe hineingepasst hätte.
Ich erinnere mich, sie im Schlafzimmer schluchzen gehört zu haben, leise, unterdrückte Laute. Ich hatte sie noch nie weinen gesehen, deshalb klopfte ich besorgt an die Tür, aber mein Vater ließ mich nicht herein. Stattdessen kam er heraus und versperrte mir den Weg. Er hielt mich mit Absicht von meiner Mutter fern, schloss mich von ihrem Leid aus. Thomas sei zum Absoluten gegangen, meinte er. Auf meine Frage, wann er denn wiederkäme, antwortete er, Thomas kehre erst im nächsten Leben zurück, wenn er bereit dafür sei. Lange Zeit kam ich nicht auf die Idee, dass Thomas tatsächlich tot war.
Ich saß auf dem Sofa und starrte auf die Straße hinaus, während mein Herz vor Liebe für den kleinen Thomas zu zerspringen drohte. Ich erinnerte mich, wie sich seine kleinen molligen Händchen in meine schoben und wie er an meinen Fingern roch, während er am Daumen lutschte. Ich würde diesem Baby den Namen Thomas oder Thomasina geben. Das war ich meinem kleinen Bruder schuldig.
Zum ersten Mal in meinem Leben empfand ich es als unsäglich traurig, keine enge Bindung zu meiner Mutter zu haben, jener Frau, die mich zur Welt gebracht, die mir das Leben geschenkt hatte. Was, wenn sich die Geschichte wiederholte? Aber ich würde dieses Baby niemals einfach gehen lassen, ohne nach ihm zu suchen. Ich würde niemals zulassen, dass ihm dasselbe widerfuhr wie mir als Kind. Niemals. Wo war sie gewesen, als ich sie gebraucht hatte?
In diesem Moment wusste ich, dass ich sie wiedersehen wollte. Zwar hatte ich keine Ahnung, was ich zu ihr sagen würde und ob ich überhaupt einen Ton herausbekäme. Aber ich wusste, dass der Zeitpunkt gekommen war.
Außerdem hatte ich immer meine Geburtsurkunde haben wollen. Vielleicht hatte sie sie ja noch. Wer weiß, vielleicht besorgte ich mir ja eines Tages einen Pass.
Archway war schon immer eine lausige Gegend gewesen. Ich war nie wieder hingefahren, sondern hatte im Zweifelsfall sogar einen Umweg in Kauf genommen. Jede Treppe, jeder Pflasterstein, jeder Laden, jeder Ziegel dort ist für immer in meinem Gedächtnis eingebrannt, wahrscheinlich sogar Teil meiner DNA. Dort lungerten Säufer herum, Geisteskranke und Perverslinge. Doch meine Eltern schienen es nie zu bemerken. Wahrscheinlich galt die Maxime – je furchtbarer der Ort, umso näher bist du Govinda. Aber wahrscheinlich ist das nicht fair, weil wir schlicht und ergreifend arm waren und uns deshalb keine bessere Wohngegend leisten konnten.
Das Beste an Archway war allerdings, dass dort sonst keiner der anderen aus der Irrenanstalt lebte.
Nach Jahren des Leugnens und Verdrängens musste ich mich nun den Tatsachen stellen. Ich musste die Konfrontation suchen und sie willkommen heißen, dachte ich, als ich in einem der vertrauten Züge der Northern Line in Richtung Barnet saß. Womit ich nicht behaupten möchte, dass es mir leichtfiele: Meine Achselhöhlen und Handflächen waren schweißnass. Ich sah mich um. Die Sitzbezüge, einst in einem rot-grünen oder, schlimmer noch, gruseligen durchfallfarbenen Karomuster, waren ausgetauscht worden. Alles sah ganz anders aus. Die Station Mornington Crescent, mit der mich die lebhafte Erinnerung an ein Entgleisungsunglück verband, gab es nicht mehr.
Ich wusste auf die Sekunde genau, wie lange die Fahrt durch die einzelnen Tunnel dauerte, und spürte, wie mich ein unheilvolles Gefühl erfasste, als wir durch den Bahnhof Kentish Town fuhren und der Countdown begann. Als Nächstes kam Tufnell Park mit der wenig einladenden orangefarbenen Beschilderung, dann war ich fast zu Hause.
Der U-Bahnhof Archway sah vollkommen anders aus. Früher war er völlig nichtssagend gewesen – die Schwärze des Tunnels mündete in einen düstereren, freudlosen Bahnsteig. Nun jedoch war der Bahnhof modern, hell und freundlich. Und auch die Leute um mich herum, die Bewohner der Gegend und solche, die hier arbeiteten, sahen anders aus als früher; gut gekleidet und gepflegt. Ich trat auf den Bahnsteig und ertappte mich dabei, wie ich nach Caroline Stern in ihrer albernen lila Schuluniform Ausschau
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