So still die Nacht
ihres Vaters zu tun hatte und sie ein mahnendes Beispiel dafür vor sich hatte, warum sie Lord Alexander besser aus dem Weg ging. »Es gibt nichts zu verzeihen.«
»Sie sind ein liebes Mädchen, und wir sind so froh, dass Sie zu uns gekommen sind, um ein Teil unserer Familie zu sein.« Lucinda umarmte Mina heftig, wenn auch sehr kurz, bevor sie wieder die Treppe hinaufging und mit den Mädchen oben in einem Flur verschwand.
Mina betrachtete die Gipsbüste, die ihr am nächsten stand. Lord Nelson starrte sie an, die Augen stählern und entschlossen.
»Ich hatte ja so einen interessanten Tag.«
Er fragte nicht nach Einzelheiten.
Mina ging in die entgegengesetzte Richtung, die die Herren eingeschlagen hatten, durch einen schwach beleuchteten Flur, der zu beiden Seiten von gerahmten Ölgemälden gesäumt wurde. Schließlich gelangte sie durch eine riesige, zweiflügelige Holztür in einen warm beleuchteten Raum.
Im Laufe der Woche, die sie bereits bei der Familie verbracht hatte, war die Bibliothek in dem gewaltigen, immer von geschäftigem Treiben erfüllten Stadthaus ihre Zuflucht geworden. Zwei riesige gletscherweiße Gipsmedaillons verzierten die Decke über ihr. Büsten aller großen literarischen Meister blickten aus identischen Nischen oberhalb eines dekorativen Wandsimses hinab. Sie schritt die mit Büchern wohlgefüllten Regale in ihrer ganzen Länge ab. Einige Bücher hatte sie bereits durchgeblättert und eine Auswahl getroffen, als ihr Blick auf Debrett’s Peerage fiel, den britischen Adelskalender. Plötzliche Neugier erfasste sie. Sie zog den schwergewichtigen Band aus dem Regal und trug ihn auf die gegenüberliegende Seite des Raums, wo sie an einem Schreibtisch Platz nahm, der vor einem mit einer Gardine verhangenen Bogenfenster stand. Eine kleine Tischlampe spendete gerade so viel Licht, wie sie benötigte. Sie hielt einen Moment inne, bevor sie ihre Tasche öffnete und die Ledermappe mit der Fotografie herausholte. Diese stellte sie neben sich. Den Blick auf ihren Vater und den nur unscharf abgebildeten Herrn neben ihm gerichtet, griff sie nach dem Debrett’s.
A für Alexander.
Sie überflog die aristokratischen Titel und fand die Stelle, wo …
Ihre Mundwinkel zogen sich nach unten. Nach A-L-E-X- war da nichts als ein unleserlicher Fleck, eine halbe Seite, auf der alle Buchstaben verschwommen waren. Auf den anderen Seiten, stellte sie fest, war die Schrift perfekt zu lesen. Typisch ihr Glück, dass genau bei der Seite, die sie lesen wollte, dem Drucker ein Fehler unterlaufen war.
Mina schloss das Buch wieder und verbannte es an die gegenüberliegende Ecke des Schreibtischs – enttäuschter, als sie hätte sein dürfen.
»Ich glaube, nach unserem letzten Kartenspiel schulde ich Ihnen etwa vierundvierzig Pfund.« Trafford saß in einem thronähnlichen Sessel an seinem Mahagonischreibtisch. Rauch stieg in grauen Schwaden von der Zigarre auf, die er zwischen den Fingern hielt. Er öffnete eine Schublade. »Mal sehen, was ich hier habe.«
»Nein, tun Sie das nicht.« Mark winkte ab, während er den süßen, holzigen Geschmack der Zigarre auskostete. »Sie haben mir gestattet, Ihre Familie zu stören, und mir zum Genuss dieser exzellenten Zigarre verholfen. Ich würde sagen, wir schulden uns nichts.«
Trafford grinste. »Es ist nicht wirklich ein Glücksspiel, wenn nicht irgendjemand verliert. Ich habe die Absicht, Sie beim nächsten Mal auszunehmen.«
»Ich will Ihr Geld nicht, Trafford.«
»Wie wäre es dann mit einer Tochter?« Trafford zeigte mit dem Aschenende der Zigarre auf Mark. »Ich habe zwei, falls Ihnen das nicht aufgefallen ist, beide in ihrer Debütsaison. Also, wenn Ihnen der Sinn danach steht, sich zu vermählen …«
Mark verschluckte den Rauch seiner Zigarre und musste husten. »Es sind beides entzückende Mädchen. Ich bin mir sicher, die jungen Damen locken potenzielle Verehrer an wie die Fliegen.«
Trafford kicherte. »Ich glaube, ihre Liste mit Favoriten ist aus dem Fenster geflogen, nachdem sie Sie erblickt haben.«
»Ich fühle mich … ah … geschmeichelt. Aber gegenwärtig, nein, Ehe ist keine Priorität.«
»Das Junggesellenleben. Ich habe es in angenehmer Erinnerung.«
Mark spürte keine Gehässigkeit bei dem Mann, die darauf hätte hindeuten können, dass er von der flüchtigen Liebelei wusste, die er und Lucinda während ihrer Debütsaison vor nur einem Jahr miteinander gehabt hatten. Sie hatten geflirtet, und sie hatten sich geküsst. Seine Hände
Weitere Kostenlose Bücher